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23 April 2024| doi: 10.5281/zenodo.13221539

Liebling, wir müssen über die Zukunft sprechen

In einer Welt, zwischen Krise und Transformation, ist die kritische Auseinandersetzung und Förderung neuer Zukunftsvisionen essentiell für den öffentlichen Diskurs. Die (kritische) Zukunftsforschung und ‘Futures Literacy’ (Zukunftskompetenz) fordert den Status quo heraus und lädt eine Vielfalt von Stimmen ein, sich vorzustellen und neu zu definieren, in welcher Zukunft wir leben wollen. Dieser Aufruf zum Handeln geht über die akademische Welt hinaus: Wir sollten die Zukunft als eine Leinwand betrachten, auf der wir unsere Vorstellungen gemeinsam entfalten – eine Aufgabe, die kollektives Engagement und Zusammenarbeit erfordert. Der Werkzeugkasten „Making Sense of the Future“, der auf Methoden der Zukunftsforschung basiert, kann als Einstieg in das zukunftsorientierte Denken dienen. Dieser Blogbeitrag stellt sowohl die theoretischen Grundlagen der Toolbox vor und skizziert praktische Übungen.

Zukunftsbilder

Inmitten einer Vielzahl von Krisen und Herausforderungen – von Pandemien und wachsender Ungleichheit bis hin zum Klimawandel und der digitalen Transformation – sind wir in eine Ära beispielloser Unsicherheit eingetreten. Die einst optimistischen Versprechen einer Zukunft des Wohlstands, der Nachhaltigkeit und der Abwesenheit von Krieg und Armut durch wissenschaftlichen Fortschritt und Technik verblassen zunehmend. Von der Popkultur bis zur Politik ist das Konzept der ‘Zukunft’¹ zu einem umkämpften Terrain geworden. Die Tech-Eliten des Silicon Valley und einflussreiche Institutionen halten oft die Zügel in der Hand, prägen unsere kollektiven Vorstellungen, ob apokalyptisch oder utopisch, und bestimmen so die Agenda und Entscheidungen für die Zukunft. Leider geht bei solch dominanten Prognosen schnell ein Blick auf die Vielfalt von Perspektiven und Betroffenheiten verloren. Vor diesem Hintergrund wird der Ruf nach einer kritischen Neubewertung unseres Verhältnisses zur Zukunft immer lauter. Wir brauchen mehr Inklusivität in unserer kollektiven Vorstellungskraft, um eine demokratische und reflektierte Teilhabe an der Zukunft zu ermöglichen.

¹ Die “Zukunft” als singulär zu betrachten, schränkt die Perspektive ein; die Erkenntnis, dass es mehrere mögliche Zukünfte gibt, fördert die Entwicklung von Alternativen zum vorherrschenden Status quo.

Jenseits der Vorhersage: Futures Literacy und Kritische Zukunftsstudien

Navigiert man durch das komplexe Terrain der apokalyptischen und utopischen Visionen unserer kulturellen Landschaft stellt sich die Frage: Auf welche andere Weise kann die Zukunft heute imaginiert werden?

Die Zukunftsforschung beschäftigt sich mit dieser Frage und versucht nicht nur herauszufinden, welche Zukünfte möglich, wünschenswert oder wahrscheinlich sind, sondern auch, wie sie gegenwärtig imaginiert werden und verändert werden könnten. Wie Kreibich darlegt, erforscht dieses akademische Feld ein Spektrum von Zukünften, während die kritische Zukunftsforschung “gegenwärtige Zukünfte” dekonstruiert und rekonstruiert – also die Art und Weise, wie Zukunft in der Gegenwart imaginiert wird. Es überrascht nicht, dass die Bilder der Zukunft, die wir heute haben, weniger über zukünftige Ereignisse aussagen als über die Gegenwart: Wünsche, Interessen, Bedürfnisse und Visionen der gegenwärtigen Gesellschaft, die sich in diesen Zukunftsprojektionen widerspiegeln. Diese Reflexion über gegenwärtige Zukünfte lädt uns dazu ein, die Grenzen und Annahmen des öffentlichen Diskurses zu hinterfragen und fordert uns heraus, ein breiteres Spektrum möglicher Zukünfte zu denken. Indem wir Zukünfte als ‘kritisch’ betrachten, erkennen wir die Rolle der Gestaltung angesichts mehrerer globaler Krisen als dringlich und riskant an.

Wie uns Azoulay (2018) in Erinnerung ruft: “Es gibt keine Garantie dafür, dass die Entscheidungen, die wir heute treffen, eine bessere Zukunft schaffen werden – aber wir können besser in der Lage sein, unsere Vorstellungskraft zu nutzen, um das Potenzial der Gegenwart zu erfassen und Wege zu finden, die mit unseren Werten vereinbar sind”. Diese Überzeugung steht im Mittelpunkt des Konzepts der “Futures Literacy” das von Sohail Inayatullah, dem ehemaligen Vorsitzenden des UNESCO-Komitees für Zukunftsforschung, populär gemacht wurde und stetig weiterentwickelt wird. Der Begriff „Futures Literacy” bezeichnet die Fähigkeit, Zukünfte auf vielfältige Weise zu „nutzen” und kennzeichnet sie als kritische Kompetenz. Futures Literacy (oder Zukunftskompetenz) umfasst die Fähigkeit, sich mit der Zukunft zu befassen, und zwar nicht nur als spekulative oder prognostische Übung, sondern auch im Hinblick darauf, wie wir unser Verständnis möglicher Zukünfte nutzen können, um gegenwärtiges Handeln zu informieren. Somit erlangt sie eine wichtige Bedeutung, um die Komplexität der heutigen Welt zu bewältigen und die Gestaltung imaginärer Zukünfte zu demokratisieren.

→ Video:  https://www.youtube.com/watch?v=q-Fmd21Jopo

Erkundung alternativer Zukünfte und Gestaltung wünschenswerter Zukünfte – ein Werkzeugkasten

“Die Zukunft ist nicht dort draußen. Sie ist hier und jetzt und formt sowohl unsere Gegenwart als auch unsere Vorstellungskraft” (Miller und Tuomi 2022).

Der Werkzeugkasten ‘Making Sense of the Future’ zielt darauf ab, das binäre Denken in utopischen und dystopischen Zukünften in Frage zu stellen, indem er sich auf eine sowohl fantasievolle als auch wissenschaftliche Art und Weise mit dem Denken über Zukünfte auseinandersetzt. Der Werkzeugkasten soll dabei helfen, bestehende Zukunftsbilder zu hinterfragen und Raum  zu schaffen für die Artikulation alternativer Zukünfte. Dies erfordert jedoch mehr als nur Wunschdenken. Als offene Bildungsressource unterstützt der Werkzeugkasten dabei, Zukünfte zu entwerfen, die inklusiver und nachhaltiger sind und unterschiedliche Perspektiven und Realitäten berücksichtigen. Er verbindet die kreative Erkundung mit kritischer Analyse und integriert Methoden der Zukunftsforschung, um ein umfassendes Verständnis möglicher Entwicklungen zu fördern.

Basierend auf der Causal Layered Analysis von Sohail Inayatullah ermutigt die Übung “Die Sprache der Zukunft” die Teilnehmer*innen dazu, dominante Metaphern und Narrative von Visionen als sprachlichen Grundlagen aufzudecken, die unsere Vorstellungen von der digitalen Zukunft prägen. Dieses tiefe Eintauchen in Sprache und Metaphorik bringt zu Grunde liegende Annahmen ans Licht und ermutigt die Schaffung neuer Metaphern und Visionen zu entwerfen.

Die interaktive Übung “Antworten im Raum“, adaptiert von Stuart Candy’s und Peter Hayward’s “Polak Game” dient als Werkzeug, um die tief verwurzelten Überzeugungen der Teilnehmenden über die Zukunft nach außen zu tragen. Bei dieser Übung geht es nicht nur um die Reflexion der eigenen Visionen, sondern auch um die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Zukunftsbildern anderer Menschen und um die Entdeckung der emotionalen und oft unausgesprochenen Werte, die unsere Sicht auf das, was kommt, prägen.

Der Werkzeugkasten lädt ein sich kreativ mit den vielfältigen technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungspfaden auseinanderzusetzen, Annahmen zu hinterfragen, Zukunftsszenarien zu entwerfen und digitale Zukünfte mit emanzipatorischen Methoden wie der Zukunftswerkstatt von Robert Jungk (“Kritische Utopien“) zu entwickeln.

‘Making Sense of the Future’ ist mit unterschiedlichen Komplexitätsstufen konzipiert und vereint zwei Schwerpunkte: die Verbesserung der Zukunftskompetenz und die Erforschung digitaler Zukünfte. Zukunftskompetenz ist entscheidend, um Sinnkrisen zu reduzieren, indem sie einen internen Kontrollpunkt fördert und zur Schaffung bevorzugter Zukünfte führt. Die verschiedenen Übungen zielen darauf ab, unsere Vorstellungskraft zu verbessern und vor allem kritisches Denken über dominante Zukunftsvisionen zu inspirieren, während gleichzeitig emanzipatorische, intersektionale, nachhaltige und gerechte digitale Zukünfte berücksichtigt werden.

Credit: ‘Making Sense of the Future Workshop’  beim Bundeskongress für politische Bildung „Gegenwartsdeutungen – Zukunftserzählungen: Politische Bildung in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche“, Weimar, 3.11.2023.

Demokratisierung von Zukünften

Die kritische Auseinandersetzung mit Macht und Narrativen ist in Zeiten von Fakenews und Polykrisen unerlässlich. Es ist entscheidend, dass wir die Gestaltung der Zukunft so demokratisieren, dass unterschiedliche Stimmen und Entscheider*innen aktiv an der Gestaltung von Zukünften teilnehmen können. Dies stärkt unsere Fähigkeit, die Herausforderungen der Gegenwart zu meistern und einer unsicheren Zukunft kreativ und zuversichtlich zu begegnen. Dieser Ansatz für die Zukunft der Digitalisierung steht im Gegensatz zu einer deterministischen und technokratischen Ethos, welcher die Zukunftsgestaltung am besten den Expert*innen überlassen möchte.

Referenzen

Azoulay, A. (2018) Foreword. In: Miller, R. (Ed.) Transforming the Future: Anticipation in the 21st Century. Routledge.

Bisht, P. (2017). Decolonizing futures: Exploring storytelling as a tool for inclusion in foresight. Master’s Thesis, OCAD University. Available at: http://openresearch.ocadu.ca/id/eprint/2129/1/Bisht_Pupul_2017_MDES_SFI_MRP.pdf [Accessed 23 February 2024].

Candy, S. & Hayward, P. (2017) The Polak Game, Or: Where Do You Stand? Journal of Futures Studies, https://jfsdigital.org/articles-andessays/2017-2/the-polak-game-or-where-do-you-stand

Fischer, N. & Marquardt, K. (2022). Playing with Metaphors. Connecting Experiential Futures and Critical Futures Studies. Journal of Futures Studies. Available at: https://jfsdigital.org/2022-2/vol-27-no-1-september-2022/playing-with-metaphors-connecting-experiential-futures-and-critical-futures-studies/ [Accessed 22 February 2024].

Gidley, J. (2017) The Future: A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press.

Gümüsay, A. & Reinecke, J. (2021) Researching for Desirable Futures: From Real Utopias to Imagining Alternatives. Journal of Management Studies. Available at: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdfdirect/10.1111/joms.12709 [Accessed 28 February 2024].

Goode, L. & Godhe, M. (2017). Beyond Capitalist Realism – Why We Need Critical Future Studies. Culture Unbound, 9(1), 108–129. https://doi.org/10.3384/cu.2000.1525.1790615

Grunwald, A. (2009) ‘Wovon ist die Zukunftsforschung eine Wissenschaft?’ in Popp, R. and Schüll, E. (eds.) Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Berlin Heidelberg: Springer, pp. 25– 35. Available at: https://doi.org/10.1007/978-3-540-78564-4_3

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Kreibich, R. (2006). Zukunftsforschung ArbeitsBericht Nr. 23/2006. Berlin: Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung. Available at: https://ams-forschungsnetzwerk.at/downloadpub/IZT_AB23.pdf 

Miller, R. (2018) Transforming the Future: Anticipation in the 21st Century. Routledge.

Miller, R. & Tuomi, I. (2022) Making the futures of AI in education: Why and how imagining the future matters. European Journal of Education, 57(4), 537–541. https://doi.org/10.1111/ejed.12529

Morozov, E. (2013). To Save Everything, Click Here: The Folly of Technological Solutionism. New York: Public Affairs. 

Mosco, V. (2004). The Digital Sublime: Myth, Power, and Cyberspace, Cambridge, MA: MIT Press.

Sample, I. (2018) ‘Elon Musk: we must colonise Mars to preserve our species in a third world war’. The Guardian. Available at: https://www.theguardian.com/technology/2018/mar/11/elon-musk-colonise-mars-third-world-war 

Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

Johanna Teresa Wallenborn

Ehem. assoziierte Forscherin: Public Interest AI

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