Unsere vernetzte Welt verstehen
Verkehrswende im Kiez: Simulation einer Bürger*innen-Beteiligung in Berlins digitaler Verwaltung
Wie können Stadtverwaltungen schwierige Herausforderungen wie Klimaneutralität, Mobilitätswende und Verwaltungsmodernisierung meistern? Das Projekt „Data & Smart City Governance am Beispiel von Luftgütemanagement“ erforscht, wie Daten und digitale Lösungen diese Probleme adressieren können. Es konzentriert sich auf die Zusammenarbeit von Verwaltungen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft bei der Datenerhebung und -verarbeitung, um gemeinwohlorientierte Ergebnisse zu erzielen. Ziel ist die Entwicklung eines Data Governance-Konzepts für Smart Cities. Es soll verschiedene Rollen, Verantwortlichkeiten, Prozesse und Richtlinien definieren, um den normativen, organisatorischen und technischen Anforderungen einer datengetriebenen Stadtentwicklung gerecht zu werden. Im Reallabor wurde geprüft, ob die entwickelten Ansätze in der Praxis tatsächlich die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigen und zukunftsfähige Lösungen bieten.
Interessenkonflikte bei der Datenerhebung und -verarbeitung
Verwaltungen stehen bei der Umsetzung datengetriebener Maßnahmen vor erheblichen Herausforderungen. Die Interessen an der Erhebung und Verarbeitung von Daten können zwischen den verschiedenen Akteuren einer Stadtgesellschaft – Verwaltung, Bürgerschaft, Wirtschaft und Politik – stark variieren. Das führt zu bedeutenden Interessenskonflikten, die am Ende sogar zu einem Scheitern ganzer Vorhaben führen können. Zudem können zunehmend komplexe, datenbasierte Entscheidungen der Verwaltung für Bürger*innen schwer nachvollziehbar sein. Mangelnde Erklärung und Transparenz solcher Entscheidungen hindert Bürger*innen zusätzlich daran, ihre Einflussmöglichkeiten zu nutzen. Die aktive Beteiligung aller von der Datenerhebung und/oder -verarbeitung betroffenen Akteure ist daher ein wesentlicher Grundsatz unseres Verständnisses von erfolgreicher Data Governance.
Interessenkonflikte durch Beteiligung lösen?
Kommunalverwaltungen müssen hohe Anforderungen erfüllen, wenn sie Entscheidungen auf Basis von Daten treffen. Das Transparenzgebot, das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ableitet, verpflichtet Verwaltungen dazu, die Grundlagen ihrer Entscheidungen offenlegen zu können. In Anbetracht der wachsenden Komplexität der Datenverarbeitung ist dies keine einfache Aufgabe. Durch verschiedene Beteiligungsformen können Interessenkonflikte frühzeitig erkannt und bestmöglich ausgeglichen, Transparenz gefördert und insgesamt die Akzeptanz für datengetriebenes Handeln erhöht werden. Die zentrale Frage ist daher, wie Bürger*innen-Beteiligung idealerweise gestaltet werden kann, um datengetriebene Maßnahmen erfolgreich umzusetzen
Getestet im Reallabor: Bessere Luft durch Verkehrswende?
Zur Beantwortung dieser Frage hat das Forschungsteam von Data & Smart City Governance am Beispiel von Luftgütemanagement ein Reallabor für Bürger*innen-Beteiligung durchgeführt, in dessen Rahmen mögliche Szenarien verschiedener Verkehrsmaßnahmen simuliert und erörtert wurden. Ein Reallabor ist ein experimenteller Raum, in dem neue Ansätze für politische Entscheidungsprozesse oder gesellschaftliche Veränderungen getestet und weiterentwickelt werden. Der Fokus liegt dabei auf der aktiven Beteiligung der Bürgerschaft, die ihre Bedürfnisse, Meinungen und Ideen direkt einbringen können. Die Veranstaltung fand am 23. November 2023 im CityLAB Berlin statt. Die multimediale Ausstellung bildete exemplarisch den Prozess verkehrsplanerischer Maßnahmen in Berlin nach. Im Rahmen dieses Settings wurde erprobt, inwieweit Interessenkonflikte durch die in einem Verwaltungsprozess bereits vorgesehenen Beteiligungsformen (sog. formelle Beteiligung) aufgelöst oder gegebenenfalls sinnvoll ergänzt werden könnten. Formelle Beteiligungsformen sind zum Beispiel mündliche Anfragen in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV), Wahlen oder Bürgerbegehren. Für die wissenschaftliche Auswertung folgte auf den Rundgang ein offenes Gespräch mit den Forscher*innen. Außerdem füllten die Besucher*innen während ihres Rundgangs einen Fragebogen aus.
Aufbau der interaktiven Ausstellung
Die Teilnehmer*innen haben in diesem Format folgende Stationen durchlaufen:
Station 1: Meinungsbildung
Ziel dieser Station war es, die Meinungsbildung der Bürger*innen durch die Konfrontation mit dem umfassenden und oft stark politisierten Diskurs über verkehrliche Maßnahmen in Berlin anzuregen. Schauspieler*innen, die als Aktivist*innen beider Lager auftraten, führten die Anwesenden in lebhafte Diskussionen über die Vor- und Nachteile verschiedener Maßnahmen. Eine Auseinandersetzung aller Beteiligten mit der jeweiligen Thematik und den unterschiedlichen Positionen ist die Voraussetzung für einen erfolgreichen Beteiligungsprozess.
Station 2: Verwaltungsprozesse
An der zweiten Station wurde der Verwaltungsablauf der drei diskutierten Maßnahmen von der Planung bis zur Umsetzung dargestellt. In Flussdiagrammen wurde am Beispiel der Berliner Verwaltung dargestellt, welche Akteure zu welchem Zeitpunkt an der Konzeption, Prüfung und Umsetzung der jeweiligen Maßnahme arbeiten. Bürger*innen können auf diese Weise verstehen: Wer trifft an welcher Stelle Entscheidungen? Das Wissen über diese komplexen Prozesse ist bislang weitestgehend verwaltungsintern. Das Reallabor hat jedoch deutlich gezeigt, dass eben jenes Wissen, ihre Beteiligten sowie die Komplexität der Abläufe maßgeblich in die Abwägung der Bürger*innen einfließen.
Station 3: Die Auswirkungen verkehrlicher Maßnahmen auf die Luftqualität
An der nächsten Station wurden die Auswirkungen verschiedener verkehrlicher Maßnahmen auf die Luftqualität vermittelt. Darunter zum Beispiel, eine Kostensteigerung für Anwohnerparkausweise (auf 50€ im Monat) im gesamten S-Bahn Ring, die somit die Kosten für den ÖPNV (49€ im Monat) übertreffen, oder einer klimaneutralen Verkehrszone (Elektromobilität) im S-Bahn Ring. Ein interaktives Online-Dashboard simuliert die Veränderung der Luftschadstoffwerte für jedes der sechs simulierten Maßnahmen-Szenarien in den sogenannten Lebensweltlich orientierten Räumen (LOR) in Berlin. Auf diese Weise lassen sich die Auswirkungen einzelner Maßnahmen straßengenau ablesen und ihr Mehrwert gegenüber den möglichen Einschnitten vor Ort abwägen. Darüber hinaus werden die Auswirkungen der verschiedenen Maßnahmen im Dashboard anhand exemplarischer Fokusgruppen unterschieden, um die unterschiedliche Betroffenheit der verschiedenen Interessengruppen innerhalb der Stadtgesellschaft aufzuzeigen. Auf einem großformatigen Poster wurde erläutert, auf Basis welcher Daten und mithilfe welcher Modelle die im Dashboard abgebildete Simulation berechnet wurde.
Wie sich solche Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität auch konkret im Stadtbild auswirken können, wurde mit Hilfe von Vorher-Nachher-Darstellungen zweier ausgewählter Orte in Berlin anschaulich dargestellt. Diese Visualisierungen zeigen nicht nur die Veränderungen in ausgewählten Straßenzügen, sondern verdeutlichen auch, wie solche Maßnahmen zusätzliche Effekte auf andere Bereiche haben können, die in die Entscheidungsfindung einbezogen werden sollten. So könnten etwa durch die Verlagerung des Autoverkehrs auf alternative Verkehrsmittel freigewordene Parkflächen neu genutzt werden. Die möglichen Auswirkungen auf das Straßenbild wurden auf Basis der Simulationsergebnisse von einem Stadtplaner prognostiziert und mit Hilfe von KI-Tools visualisiert.
Zusätzlich wurden die Auswirkungen der Luftschadstoffe auf die Gesundheit von Anwohner*innen an ausgewählten Orten in Berlin, darunter u.a. die Pacelliallee (Dahlem), Bismarckstraße (Charlottenburg), und die Niederbarnimstraße (Friedrichshain) dargestellt. Wie könnte sich eine Reduktion der Luftverschmutzung durch die zur Diskussion stehenden Maßnahmen auf die relative Sterblichkeit auswirken?
Zudem gab es in dieser Station das Angebot einer sogenannten Bürger*innen-Sprechstunde mit einem Verwaltungsmitarbeiter (ebenfalls ein Schauspieler). Diese Möglichkeit zum Dialog mit der kommunalen Verwaltung ist schon heute ein zentraler Bestandteil (formeller) Beteiligung. Bei solchen Sprechstunden können sich Bürger*innen mit Fragen und Anliegen unmittelbar an die Verwaltung oder Politik wenden.
Station 4: Bezirksverordnetenversammlung und Abschlussdiskussion
Abschließend nahmen die Bürger*innen an einem Simulationsspiel teil, das eine Bezirksverordnetenversammlung nachstellte. In dieser Umgebung trafen sie auf „Abgeordnete“ (gespielt von Schauspieler*innen) und konnten, gestützt auf die Informationen aus den vorherigen Stationen, eigene fiktive Anträge formulieren. Anschließend entschieden die Abgeordneten nach einem festgelegten Schema über die Einführung der vorgeschlagenen verkehrlichen Maßnahmen und erläuterten ihre Entscheidungen je nach Vorgabe mehr oder weniger ausführlich. Das Reallabor endete mit einer lebhaften Abschlussdiskussion, in der die Teilnehmer*innen ihre Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem gesamten Prozess reflektierten.
Erkenntnisse: Wie kann Partizipation in der datengetriebenen Verwaltung gelingen?
Unser Reallabor zur Bürger*innen-Beteiligung hat spannende Einblicke in die erfolgreiche Gestaltung von Partizipation in der datengetriebenen Verwaltung geliefert. Das sind die wichtigsten Erkenntnisse:
Strukturierte Prozesse für eine informierte Abwägung
Für eine effektive Bürger*innen-Beteiligung ist es entscheidend, dass sowohl Bürger*innen als auch politische Entscheidungsträger*innen einen klar strukturierten Beteiligungsprozess durchlaufen können. Dies bedeutet, dass der gesamte Umsetzungsprozess einer Maßnahme transparent gemacht wird, alle Beteiligten über den aktuellen Stand und ihre Einflussmöglichkeiten informiert sind und die Argumente sowie Daten für die Entscheidungsfindung offen gelegt werden. Nur so kann eine umfassende und fundierte Bewertung der Vor- und Nachteile von Maßnahmen erfolgen.
Lokale Bezüge deutlich machen
Für eine erfolgreiche Bürger*innen-Beteiligung ist der lokale Bezug entscheidend. Daher sollten bei Vorhaben immer auch die konkreten Auswirkungen vor Ort dargestellt werden. So können die Vorteile und Risiken von den Betroffenen in Bezug zu ihren konkreten Lebenswirklichkeiten gesetzt werden. Neben den verwendeten Fotografien könnte insbesondere auch der gezielte Einsatz digitaler Medien die konkreten Auswirkungen vor Ort erfahrbar machen. Von den Teilnehmer*innen des Reallabors wurde diesbezüglich insbesondere das Potenzial von Augmented Reality betont.
Problemlösung durch Kokreation
Auf Seiten der Bürger*innen besteht ein großes Interesse, bei datengetriebenen Vorhaben kokreativ einbezogen zu werden. Im Gegensatz zu einer rein informativen oder deliberativen Beteiligung geht es hierbei darum, in einem ergebnisoffenen Gestaltungsprozess konkrete Lösungen gemeinsam mit der Kommune zu erarbeiten. Bei datengetriebenen Projekten meint Kokreation insbesondere auch das Einbringen eigener Daten bzw. Datenanalysen, etwa aus Citizen-Science-Projekten. Der Berücksichtigung solcher Daten stehen aktuell jedoch hohe Anforderungen in Verwaltungsprozessen entgegen, da die für rechtssichere Verfahren erforderliche Datenqualität und -integrität von Bürger*innen nicht ohne Weiteres zweifelsfrei gewährleistet werden kann.
Teilnahme an entscheidenden Gremien
Ein wesentlicher Schritt in einem Beteiligungsprozess ist es, Bürger*innen zur aktiven Teilnahme an entscheidenden Gremien zu motivieren. Auch wenn Bürger*innen auf lokaler Ebene, wie etwa in Bezirksverordnetenversammlungen, kein Stimmrecht haben, können sie Fragen stellen und Anträge einbringen. Die Akzeptanz von Maßnahmen kann erheblich steigen, wenn die eingebrachten Beiträge ernst genommen und in den Entscheidungsprozess integriert werden. Fehlt diese Integration, fühlen sich Bürger*innen oft nicht ausreichend beteiligt und empfinden ihre Beiträge als nicht wertgeschätzt.
Diese Erkenntnisse zeigen, wie wichtig es ist, Bürger*innen auf allen Ebenen einzubinden und transparente, nachvollziehbare Prozesse zu schaffen, um eine erfolgreiche und akzeptierte Daten- und Verwaltungsbeteiligung zu gewährleisten.
Was nehmen wir für die Zukunft mit?
Die Beteiligung aller von der Datenerhebung und/oder -verarbeitung betroffenen Interessensgruppen ist ein zentraler Aspekt erfolgreicher Data Governance. Im interaktiven Reallabor wurde untersucht, wie Beteiligung in datengetriebenen Maßnahmen gestaltet werden sollte, um Interessenkonflikte frühzeitig zu erkennen und im besten Fall zu lösen. Solche Maßnahmen sind entscheidend, um sicherzustellen, dass datengetriebene kommunale Veränderungen von den betroffenen Stadtbewohner*innen akzeptiert und nachhaltig umgesetzt werden.
Das Reallabor hat gezeigt, dass eine umfassende Information der Bürger*innen über administrative Prozesse notwendig ist, um eine ausgewogene Bewertung von Vorteilen und Risiken zu ermöglichen. Besonders wichtig sind der lokale Bezug und die anschauliche Darstellung möglicher Auswirkungen, um eine erfolgreiche Beteiligung zu fördern. Bürger*innen möchten aktiv an der Lösungsfindung mitwirken und der direkte Austausch mit politischen Entscheidungsträger*innen hilft, die Interessen aller Beteiligten besser zu harmonisieren. Diese Erkenntnisse sollten in zukünftigen datengetriebenen Projekten von Verwaltungen stärker berücksichtigt werden.
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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