Unsere vernetzte Welt verstehen
Zwei Jahre nach der Übernahme: Vier zentrale Änderungen im Regelwerk von X unter Musk
Seit der Übernahme von X (vormals Twitter) durch den umstrittenen Geschäftsmann und Investor Elon Musk, hat die Plattform eine Reihe von Policy-Änderungen vorgenommen. Einige Änderungen im Regelwerk, wie die Aufhebung einer Regel gegen das Misgendern von Trans-Personen, haben viel Aufmerksamkeit generiert, während andere unbemerkt geblieben sind. In welche Richtung hat sich das Regelwerk von X entwickelt? Und wie haben sich die Richtlinien der Plattform zu Hassrede, Desinformation und Kindesmissbrauch verändert? In diesem Blogbeitrag werden vier zentrale Entwicklungen innerhalb des verzweigten Geflechts von Xs Richtlinien dargestellt.
Policy-Änderungen seit Musks Übernahme
Seit Elon Musk am 28. Oktober 2022 verkündete, dass „der Vogel frei ist“, wurde viel über den Wandel der Plattform geschrieben, die zuvor als Twitter bekannt war. Im Hinblick auf das komplexe Geflecht von Richtlinien, das Twitter im Laufe seines 16-jährigen Bestehens entwickelt hatte, löste die Übernahme von Musk die Sorge aus, dass die Plattform die Moderation von Inhalten wie Hassrede und Falschinformationen zurückdrehen könnte.
Dieser Blogbeitrag gibt einen Überblick über vier zentrale Entwicklungen in den Regeln und Richtlinien von X seit der Übernahme durch Musk. Die Analyse basiert auf dem Platform Governance Archive, das die kontinuierliche Beobachtung der historischen Entwicklung der X-Richtlinien ermöglicht.
1. Rücknahme von Regeln gegen Falschinformationen
Die deutlichsten Änderungen Xs Regelwerk betrafen Falschinformationen. Seit der Übernahme durch Musk hat X seine Richtlinien gegen irreführende Informationen in einer Krise, zu irreführenden Informationen über COVID-19, zu Falschinformationen über Wahlergebnisse sowie das Konzept des “informativen Schadens” aus seinem Regelwerk entfernt.
- Irreführende Informationen in einer Krise: X befasst sich im Rahmen seiner Richtlinien nicht länger mit “falschen oder irreführenden Informationen, die Bevölkerungsgruppen, die von einer Krise betroffen sind, Schaden zufügen könnten (…) z. B. in bewaffneten Konflikten, Notfällen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und großen Naturkatastrophen”. Dazu gehörten falsche Behauptungen über Kriegsverbrechen oder falsche Berichterstattung über die Zustände in einem bewaffneten Konflikt, wenn sie das Potenzial hatten, Menschen ernsthaft zu schaden.
- Irreführenden Informationen über COVID-19: X strich die Richtlinie, die es verbot falsche oder irreführende Informationen über COVID-19 zu verbreiten, die zu Schaden führen können. Die Richtlinie zielte darauf ab, Desinformation und falsche Behauptungen über das Virus, Impfstoffe und Behandlungen zu unterbinden. Anders als auf den englischsprachigen Seiten von X, wurde diese Richtlinie auf der deutschsprachigen Seite bisher nicht entfernt.
- Integrität staatsbürgerlicher Prozesse: Bestimmungen, die es verboten, irreführende Informationen über die Ergebnisse von Wahlen zu verbreiten, wurden gestrichen. Dazu zählte etwa die “Erklärung des Siegs, bevor die Ergebnisse bestätigt sind”.
- Informativer Schaden: Zusammen mit der Richtlinie zu koordinierten schädlichen Aktivitäten, hat X diese Art von Schaden aus seinem Regelwerk gestrichen. Zuvor wurde dieser als nachteilige Auswirkung auf die Fähigkeit einer Person definiert, auf Informationen zuzugreifen, die für die Ausübung ihrer Rechte von grundlegender Bedeutung sind. Die Definition umfasste außerdem Informationen “die die Stabilität und/oder die Sicherheit einer sozialen Gruppe oder der Gesellschaft erheblich beeinträchtigten”.
Diese Änderungen stellen einen Rückzug von der Bewertung verschiedener Arten von Falschinformationen, wie etwa Wahlergebnissen, medizinischen Krisen und internationalen Konflikten dar. X verlässt damit die Rolle eines “Schiedsrichters über die Wahrheit”, die Twitter mit Blick auf diese Themen nach und nach eingenommen hatte und verabschiedet sich darüber hinaus von der zweifellos schwammigen Definition eines “informativen Schadens”.
2. Verschärfung der Richtlinien zu Kindesmissbrauch
Ein Bereich, in dem X seine Regeln und Vorschriften erweitert hat, ist der physische und sexuelle Missbrauch von Kindern. Während Twitters vorherige Richtlinie nur den sexuellen Missbrauch von Kindern behandelte, deckt die neue englischsprachige Richtlinie von X nun auch physische Gewalt gegen Kinder ab.
- Medien, die physischen Kindesmissbrauch darstellen: X hat seine Richtlinie auf die meisten Fälle von physischer Gewalt gegen Kinder ausgeweitet, um damit eine Reviktimisierung und Normalisierung von Gewalt gegen Kinder zu verhindern.
- Medien, die Minderjährige in körperlichen Auseinandersetzungen zeigen: Diese neue Kategorie der Plattform kann je nach Kontext die Entfernung von Inhalten, die Minderjährige in körperlichen Auseinandersetzungen zeigen, verlangen oder deren Reichweite einschränken.
- Streichung von Ausnahmen: Mit der aktualisierten Richtlinie hat X auch eine Ausnahme für „Darstellungen nackter Minderjähriger in einem nicht-sexuellen Kontext“ entfernt. Zuvor konnten so künstlerische oder wissenschaftliche Darstellungen von einer Entfernung verschont bleiben.
Die Verschärfung der Bestimmungen zum Thema Kindesmissbrauch wurden von X proaktiv kommuniziert. Nach Angaben der Plattform haben die neuen Maßnahmen und der verstärkte Einsatz automatischer Erkennungstechnologien zu einem starken Anstieg der Kontosperrungen im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern geführt.
3. Uneinheitliche Änderungen zu Hassrede und Gewaltandrohungen
Mit Blick auf Hassrede und Gewaltandrohungen zeigt sich in den Änderungen der Richtlinien von X ein gemischtes Bild. Während Bestimmungen gegen das Misgendern und Deadnaming von Transpersonen entfernt wurden, wurden die Bestimmungen über gewalttätige Äußerungen erweitert.
- Misgendering und Deadnaming: Eine Änderung, über die in den Medien viel berichtet wurde, ist die Streichung einer Passage aus Twitters Richtlinie zu Hass schürendem Verhalten, die es untersagte “Transgender-Personen absichtlich mit dem falschen Geschlecht oder mit dem Geburtsnamen zu bezeichnen”. Außerdem entfernte X einen Satz aus der Einleitung der Richtlinie, in dem „Frauen, People of Colour, Homosexuelle beider Geschlechter, Bisexuelle, Transgender-, Queer- und Intersex-Personen, asexuelle Personen“ als Beispiele für Gruppen genannt wurden, die online verstärkt Missbrauch ausgesetzt sind.
- Beibehaltung von Kernbestimmungen: Die allgemeine Bestimmung, die es verbietet, Menschen “aufgrund von ethnischer Herkunft und Zugehörigkeit, nationaler Herkunft, Kaste, sexueller Orientierung, Geschlecht, Geschlechtsidentität, Religionszugehörigkeit, Alter, Behinderung oder schwerer Krankheit” anzugreifen, ist jedoch erhalten geblieben. In der Richtlinie zu Missbrauch und Belästigung hat X darüber hinaus eine neue Bestimmung über die “Verwendung ehemaliger Namen und Pronomen” eingefügt. Darin heißt es “Wo es von lokalen Gesetzen verlangt wird, reduzieren wir die Sichtbarkeit von Posts, die eine Person absichtlich mit anderen Pronomen ansprechen, als diese Person für sich selbst verwendet”. Musk selbst hat jedoch auf den unfreiwilligen Charakter dieser Änderung hingewiesen, die auf ein Gerichtsurteil in Brasilien zurückzuführen ist und außerhalb Brasiliens nicht gelten soll.
- Bestimmungen zu Gewaltandrohungen: Die Definition darüber, was eine problematische Gewaltandrohung darstellt, wurde erweitert. Während die vorherige Richtlinie nur Androhungen von ernsthaften körperlichen Schäden untersagte, umfasst die neue Bestimmung das Androhen jeglicher körperlicher Schäden. Außerdem wurde die Bestimmung auf die Androhung von Beschädigungen gegenüber zivilen Unterkünften und wichtiger Infrastruktur ausgeweitet.
- Bestimmungen zu gewaltsamen Inhalten: Die Bestimmungen zu gewaltsamen Inhalten wurden überarbeitet und adressieren nun explizit “codierte Formulierungen (so genannte „dog whistles“) dafür verwendet werden, indirekt zu Gewalt aufzurufen”. Außerdem hat X eine Ausnahmeregelung aus der Richtlinie zu den Verursachern gewalttätiger Angriffe entfernt. Diese hatte “Personen, die gewaltsamen Widerstand gegen diejenigen leisten, die direkt an Feindseligkeiten in einem bewaffneten Konflikt teilnehmen” von der Durchsetzung der Richtlinie ausgenommen.
Diese Änderungen zeigen, dass X zwar die Schutzbestimmungen für Transpersonen verringert hat, aber andere Richtlinien zu hasserfüllten und gewalttätigen Äußerungen verschärft wurden.
4. Schwächere Konsequenzen für Regelverstöße
Auch wenn die Definitionen von erlaubten und verbotenen Inhalten in vielen Bereichen weitgehend gleich geblieben sind, haben sich die Konsequenzen für Verstöße deutlich verschoben. So ist X in vielen Bereichen von der Sperrung von Profilen und der Entfernungen von Inhalten zu schwächeren Maßnahmen wie der Reduzierung der Sichtbarkeit von problematischen Inhalten und Profilen übergegangen.
- Richtlinie zur Integrität von bürgerrechtlichen Prozessen: Ein deutliches Beispiel für diese Entwicklung ist die Richtlinie von X zur Wahrung der Integrität von bürgerrechtlichen Prozessen. Vor der Übernahme durch Musk verwendete die Plattform ein Punktesystem für Verstöße, das Maßnahmen wie die Einschränkung der Sichtbarkeit, die Entfernung von Inhalten und die Sperrung von Konten umfasste. Mehr als fünf Verstöße gegen die Richtlinien führten zu einer dauerhaften Sperrung von der Plattform. Die jetzige Richtlinie sieht nur noch Reichweitenbeschränkungen als Konsequenz vor.
- “Freedom of Speech, Not Freedom of Reach”: In vielen Feldern verhängt X für Verstöße nun Reichweitenbeschränkungen wie das Entfernen von Beiträgen und Profilen aus Suchergebnissen und Empfehlungen und das Hinzufügen von Hinweisen. Dies entspricht dem neuen “Freedom of Speech, Not Freedom of Reach”-Ansatz von X, der die Entfernung von Inhalten und Kontosperrungen lediglich für schwere Verstöße wie illegale Aktivitäten, gewalttätige Drohungen, gezielte Belästigungen, Verletzungen der Privatsphäre und Plattformmanipulation oder Spam vorsieht.
Wie ist der Wandel des Regelwerks von X einzuordnen?
Die Analyse dieser vier zentralen Entwicklungen zeigt, dass die Umgestaltung des Regelwerks von X nicht auf die Rücknahme bestehender Regeln reduziert werden kann. Stattdessen ist dieser Wandel sowohl von der Abschaffung, als auch von der Erweiterung und Umformulierung bestehender Regeln gekennzeichnet. Es ist jedoch eine deutliche Verschiebung hin zu milderen Sanktionen in verschiedenen Themenfeldern festzustellen.
Der Wandel der Richtlinien stellt allerdings nur einen Aspekt in der fortschreitenden Transformation von X dar. Änderungen an dem Interface der Plattform, den zugrundeliegenden algorithmischen Abläufen und ihrer allgemeinen Kultur sind weitere wichtige Faktoren, die zu berücksichtigen sind. Musks immer stärker nach außen getragene politische Agenda und sein selbsternannter Kreuzzug gegen den „Woke Mind Virus“ geben Anlass zur Sorge darüber, wie der reichste Mann der Welt seinen Einfluss nutzt, um bestimmte Stimmen auf seiner Plattformen zu verstärken oder zu unterdrücken.
Das umfangreiche und sich stetig weiterentwickelnde Regelwerk von X bleibt dabei ein zentraler Schauplatz für die Auseinandersetzung über die angemessene Regulierung von digitaler Kommunikation auf sozialen Plattformen, was es zu einem reichhaltigen Gegenstand für die wissenschaftliche Forschung macht.
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
Jetzt anmelden und die neuesten Blogartikel einmal im Monat per Newsletter erhalten.
Plattform Governance
Zwischen Vision und Realität: Diskurse über nachhaltige KI in Deutschland
Der Artikel untersucht die Rolle von KI im Klimawandel. In Deutschland wächst die Besorgnis über ihre ökologischen Auswirkungen. Kann KI wirklich helfen?
Ein Schritt vor, zwei zurück: Warum Künstliche Intelligenz derzeit vor allem die Vergangenheit vorhersagt
KI gilt als Zukunftstechnologie, stützt sich selbst aber meist auf historische Daten. Reproduziert sie dadurch soziale Ungleichheiten und Verzerrungen?
Zwischen Zeitersparnis und Zusatzaufwand: Generative KI in der Arbeitswelt
Generative KI am Arbeitsplatz steigert die Produktivität, doch die Erfahrungen sind gemischt. Dieser Beitrag beleuchtet die paradoxen Effekte von Chatbots.