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EuGH und Vorratsdatenspeicherung: Emergenz eines Grundrechts auf Sicherheit?
Mit seinem Urteil zur Nichtigkeit der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie (Rs. C-293/12 und C-594/12) hat der EuGH den Nerv der Zeit getroffen. Die anlasslose Speicherung sämtlicher Kommunikationsdaten steht außer Verhältnis zu den mit der Richtlinie neben der Verwirklichung des Binnenmarktes verfolgten Zielen – nämlich die „Bekämpfung des internationalen Terrorismus zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ sowie die „Bekämpfung schwerer Kriminalität zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit“ (Rn. 42).
Sodann verweist der EuGH aber „im Übrigen“ auf Art. 6 GRCh, nach dem „jeder Mensch nicht nur das Recht auf Freiheit, sondern auch auf Sicherheit hat“. Diese Feststellung ist bemerkenswert, war sich die bisher ganz überwiegende Meinung im Schrifttum doch einig, dass Schutzgut der Vorschrift lediglich die körperliche Bewegungsfreiheit sei. Der Freiheitsbegriff definiere das Schutzgut, der Erwähnung der „Sicherheit“ komme keine eigenständige Bedeutung zu. Sie solle vielmehr nur den Zweck der Vorschrift, den Schutz vor unwillkürlichen Verhaftungen, verdeutlichen. Danach wäre die Sicherheit gewissermaßen nur als Annex zum Begriff der Freiheit zu verstehen.
Diese Lesart speist sich aus dem Umstand, dass Art. 6 GRCh dem Art. 5 EMRK exakt nachgebildet ist. Dies ist auch in den Erläuterungen zur GRCh, die gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh und Art. 6 Abs. 1 Uabs. 3 EUV gebührend zu berücksichtigen sind, noch einmal hervorgehoben. Konsequent wird dort auch die Schrankenregelung des Art. 5 EMRK wiederholt. Aus Art. 5 EMRK hat der EGMR aber bisher lediglich ein Recht auf Schutz der körperlichen Bewegungsfreiheit deduziert und dem Begriff der Sicherheit keine eigenständige Bedeutung beigemessen. Gem. Art. 52 Abs. 3 GRCh haben die Charta-Rechte die gleiche Tragweite und Bedeutung wie die korrespondierenden Rechte der EMRK.
Wenn der EuGH nun von einem Recht „nicht nur auf Freiheit, sondern auch auf Sicherheit“ spricht, nimmt er gerade eine explizite Unterscheidung beider Begriffe vor. Wie anders als die Etablierung eines eigenständigen Rechts auf Sicherheit soll dies verstanden werden?
Nimmt man die Formulierung ernst, wäre es künftig durchaus denkbar, sich auf eben dieses Grundrecht auf Sicherheit zu berufen. Was würde dies konkret bedeuten? Auf jeden Fall wären zum einen sicherheitspolitische Maßnahmen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf damit einhergehende Grundrechtseingriffe wegen etwaiger Grundrechtskollisionen einfacher zu rechtfertigen, da der Eingriff in kollidierende Freiheitsgrundrechte zugleich der Verwirklichung des Grundrechts auf Sicherheit diente. Hätten Individuen vielleicht sogar Anspruch auf die Vornahme bestimmter Sicherheitsmaßnahmen durch die Europäische Union, insbesondere auch außerhalb des Bereichs der körperlichen Bewegungsfreiheit? Wurde hier also der Grundstein für künftige mögliche subjektiv-grundrechtliche Schutzpflichten auf europäischer Ebene gelegt, die in dieser Form in der bisherigen Rechtsprechung des EuGH noch keine Rolle spielten? Oder erwächst aus diesem Grundrecht zumindest eine objektiv- aber dennoch explizit grundrechtliche Pflicht der EU zur Vornahme von Sicherheitsmaßnahmen? Wäre es, provokant gefragt, gar denkbar, die Schaffung einer neuen Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie, die den Anforderungen des EuGH genügt, grundrechtlich zu begründen?
Auffällig ist, dass der Gerichtshof dieses Recht lediglich im Rahmen der Bestimmung der legitimen Ziele der Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung erwähnt, im Rahmen der weiteren Verhältnismäßigkeitsprüfung auch nicht weiter auf Art. 6 GRCh eingeht und insofern eine möglicherweise bestehende Grundrechtskollision mit Art. 7 und 8 GRCh nicht diskutiert. Gerade auf dieser Ebene hätte sich das Grundrecht aber konkret zugunsten der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie ausgewirkt. Darum ist die zuvor angesprochene Passage auch mit Vorsicht zu genießen – möglicherweise handelt es sich dabei nur um eine ungeschickte oder unbedachte Formulierung des Gerichtshof, der einem etwaigen Grundrecht auf Sicherheit keine weiterreichende Bedeutung beimessen wollte. Sollte er ein entsprechendes Grundrecht auf Sicherheit aber tatsächlich dauerhaft einführen wollen, hätte dies fundamentale Auswirkungen auf den künftigen Grundrechtsschutz in Europa, zudem entstünde ein erhebliches Konfliktpotential zur bisherigen Rechtsprechung des EGMR. Dies wäre gerade im Hinblick auf den bevorstehenden Beitritt der EU zur EMRK von besonderer Bedeutung, können Urteile des EuGH doch künftig vor den EGMR auf ihre Vereinbarkeit mit den Konventionsrechten überprüft werden.
Dieser Beitrag ist Teil der regelmäßig erscheinenden Blogartikel der Doktoranden des Alexander von Humboldt Institutes für Internet und Gesellschaft. Er spiegelt weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wieder. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de.
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