Unsere vernetzte Welt verstehen
Anonyme Äußerungen im Netz: Der Fall 4chan
Innerhalb der gesamten Literaturgeschichte finden sich unzählige Beispiele für anonym veröffentlichte Werke. Auch im Web scheint Anonymous der wohl eifrigste Nutzer überhaupt zu sein. Doch inwiefern sind anonyme Äußerungen von der Meinungsfreiheit geschützt? Und wie gehen wir mit Foren wie 4chan um, in denen die Anonymität der Nutzer zu scheinbar anarchieähnlichen Zuständen führen kann?
„Anonymus: der in der gesamten Literatur am häufigsten vorkommende Autor.“
– Anonym
Nicht nur lolcats, sondern auch Mord
4chan.org ist ein soziales Netzwerk, in dem die Nutzer sich in Threads (Gesprächskategorien) über Bilder zu unterschiedlichen Themen austauschen. Der US-Amerikaner Christopher „moot“ Poole gründete es 2003, bevor er es im Jahr 2015 an den Japaner Hiroyuki Nishimura verkaufte. Es definiert sich selbst als Nachfolger der japanischen Plattform Futaba Channel. In seinem Aufbau und seiner Funktionsweise unterscheidet sich 4chan nicht wesentlich von Reddit, Something Awful oder anderen großen Internet-Foren. Dem großen Publikum ist diese Plattform meistens unbekannt und doch besuchen nach Angaben der Betreiber mehr als 27 Millionen Nutzer die Seite jeden Monat, bis zu eine Million Beiträge werden jeden Tag veröffentlicht. Größtenteils drehen sich diese Imageboards um beliebige Themen wie Kaffeebohnen oder Fitnesstipps, es gibt aber auch Threads mit schockierenden Bildern (mehr dazu unten).
4chan unterscheidet sich allerdings in einem fundamentalen Punkt von anderen sozialen Netzwerken: alle Nutzer posten und kommentieren anonym. Es existiert keine Möglichkeit, sich mit einem echten oder ausgedachten Namen zu registrieren: jeder Nutzer heißt „Anonymous“. Ins Darknet muss man allerdings nicht, um die Seite aufzurufen, eine einfache Google-Suche genügt. Ein anderer wichtiger Punkt, der 4chan auszeichnet, ist, dass auf der Seite eine von den Benutzern selbstgeschaffene Terminologie benutzt wird, die Außenstehende meist nicht ohne weiteres verstehen können.
Bekannt ist 4chan ursprünglich als Inkubator einer sehr hohen Zahl an Memes und anderer Internet-Praktiken, die heutzutage zum Online-Mainstream gehören. Memes nennt man Kombinationen von Bildern und Sprüchen, die als unmittelbare kommunikative Reaktion auf die Artefakte der medialen Wirklichkeit gelten. Sie sind ein Merkmal der Interaktion alternativer Öffentlichkeiten in sozialen Netzwerken, wie eben 4chan (1). Das bekannteste Beispiel dafür sind die „lolcats“, ganze Threads mit Katzenmemes. Es gibt aber auch weniger amüsante Kategorien auf 4chan: dort findet man die größten Fälle von Hoaxes (Enten), Cybermobbing und Pranks (Internet-Streiche). Unter der Kategorie /r9k/ (“ROBOT9000”) findet man beispielsweise Hassposts gegen sogenannte „Normies“, also Imageboards von „beta-males“, die sich gegen das Normale und den Mainstream wenden. Gründer Poole hat die Kategorie wegen der Hassposts und des Rassismus gelöscht, doch 2011 wurde sie gleichzeitig mit der Kategorie /hc/ (Hardcore) wiederhergestellt.
Das Herzstück der Seite ist die Kategorie „random“, beziehungsweise /b/. Dort finden sich die brutalen Bilder, für die das Netzwerk berüchtigt ist und es gilt auch als Heimat der Hacktivisten Anonymous. Eine lange Lebensdauer haben Beiträge bei 4chan nicht, sie werden binnen weniger Tage von den Servern gelöscht. Gründe hierfür sind, dass erstens jeder Bereich nur eine gewisse Anzahl an Threads aufnimmt – und aktivere obenauf gelegt werden, und zweitens die hohen Serverkosten der Plattform, die sich aufgrund der heterogenen Beiträge durch Werbung nicht dauerhaft finanzieren lässt. Dennoch bleiben die Beiträge lange genug auf der Seite, um ihre Wirkung zu entfalten, denn Moderation oder Zensur gibt es hier nicht. Man findet ohne Schwierigkeiten pornographisches Material und Bilder von Gewalt, nicht zuletzt Leichenbilder, sowie Amoklauf- oder Mordankündigungen. Im November 2014 erwürgte ein damals 33-jähriger Mann in Portland, Oregon seine Freundin. Er postete mehrere Fotos, die ihre nackte Leiche zeigten, auf 4chan. In Deutschland sorgte der Fall Marcel H. im März 2017 für viel Aufsehen, nachdem Bilder auftauchten, die H. vom Leichnam eines seiner vermeintlichen Opfer machte, dem neunjährigen Sohn der Nachbarn. Noch auf der Flucht vor der Polizei hatte H. die Fotos wohl einem 4chan-Nutzer geschickt. 4chan präsentiert sich also als maximal ideologiefreier Ort, an dem als einziges Ideal die uneingeschränkte Meinungsfreiheit interessierte. Wie ist diese Aussage juristisch zu bewerten?
Grundsätzlicher Schutz aller Meinungsäußerungen
„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (…)“
Der sachliche Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG ist weit gefasst. Darunter fallen grundsätzlich Werturteile und wahre Tatsachenbehauptungen, unabhängig von ihrem Inhalt und ihrem Wert. Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut und wichtiger Teil der freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik. Persönlich darf jedermann dieses Grundrecht ausüben und es bildet mit der Informationsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG ein sogenanntes Zwillingsgrundrecht. Diese beiden Grundrechte konstituieren das Fundament für unsere Wissensgesellschaft und unser mediales Zusammenleben („un des droits les plus précieux de l’homme“ nach Art. 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789). Insbesondere werden Meinungsäußerungen auch im Internet geschützt.
Was gilt bei anonymen Äußerungen?
Grundsätzlich sind anonyme Äußerungen genauso schutzwürdig wie solche, bei denen der Klarname erkennbar ist. Das hat der Bundesgerichtshof 2009 in seiner sogenannten spickmich.de-Entscheidung klargestellt. Es gibt keinen Grund, der anonymen Äußerung einen schwächeren Schutz zu gewähren. In einem vorherigen Urteil hatte das Gericht 2007 festgestellt, die anonyme Nutzung sei dem Internet immanent. Und da im Web 2.0 quasi alles als Kommunikation zu werten ist, besteht kein Zweifel an einer weiten Auslegung des Schutzbereiches von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG für anonyme Posts, nicht zuletzt wegen der drohenden Gefahr von chilling effects oder Selbstzensur. Darüber hinaus garantiert auch das Datenschutzrecht beispielsweise in §§ 12 ff. TMG dem Internet-Nutzer ein Recht auf Anonymität.
Doch der Schutz der freien Meinung geht immer nur so weit, wie er nicht die Ehre des Nächsten verletzt. Auch gegen anonyme Äußerungen im Internet hat der Betroffene aus dem Zivilrecht einen Anspruch auf Unterlassung gemäß §§ 1004, 823 Abs. 1 BGB iVm Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG. Das Problem der Rufschädigung in Bewertungsportalen wurde bereits in den Fällen spickmich.de und jameda.de breit diskutiert. Schwierig ist im Ergebnis, dass ein solcher begründeter Anspruch zwar gegen den Betreiber der Plattform, aber nicht gegen den anonymen Nutzer durchsetzbar ist. Denn wie der Bundesgerichtshof 2014 klarstellte: der Verletzte hat keinen Auskunftsanspruch gegen den Forenbetreiber, wenn es diesem unmöglich ist, den Namen des Nutzers zu ermitteln. Das gilt insbesondere dann, wenn der Geschädigte einen möglichen Anspruch auf Schadensersatz geltend machen will oder wenn der anonyme Nutzer seine Äußerung auf anderen Plattformen wiederholt. Facebook und andere soziale Netzwerke verlangen daher eine Registrierung unter Echtnamen und verlangen bei Zweifeln auch Nachweise, wie das Einsenden einer Personalausweiskopie.
Klarnamenzwang als Lösung?
Wie geht man aber mit Äußerungen auf Seiten wie 4chan um, wo auch der Anspruch auf Auskunft gegen den Betreiber der Seite aussichtlos ist? Ist eine Pflicht zum Klarnamen bei der Registrierung ein Lösungsansatz? Gegen einen gesetzlich verankerten Klarnamenzwang spricht u.a. § 13 Abs. 6 TMG, der die Nutzung von Telemedien grundsätzlich auch anonym garantiert, soweit technisch möglich und zumutbar. Dieser Grundsatz existiert auf EU-Ebene nicht und greift daher nur, wenn deutsches Telemedienrecht anwendbar ist. Unabhängig von der Tatsache, dass 4chan’s Server nicht in Deutschland liegen und ein Vorgehen deutscher Behörden wohl an der praktischen Umsetzung scheitern würde, ist es aufgrund der Anonymität kaum möglich zurückzuverfolgen, wer verletzende oder strafbare Inhalte postet.
Die Diskussion rund um anonyme Äußerungen im Netz und die Klarnamenpflicht beinhaltet sowohl grundsätzliche, verfassungsrechtliche Fragen als auch solche des Telemedien- und Datenschutzrechts. Das Gleichgewicht zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz der Rechte Dritter – wie dem Ehrschutz – gelingt in der Praxis nicht ohne weiteres. Ein Blick auf die Google-Ergebnisse zum Mandalay Bay-Schützen macht das Problem greifbarer: Beim Amoklauf in Las Vegas in der Nacht zum 2. Oktober 2017 hatte die mächtigste Suchmaschine der Welt 4chan-Posts zum vermeintlichen Täter als Top-Ergebnisse gelistet. Darin hieß es, der Täter sei ein Mann namens Geary Danley, der linksextrem sei und der „anti-Trump Armee“ angehöre. Ein konservativer Politiker teilte daraufhin den von Google gelisteten 4chan-Post, bevor er seinen Post mit dem Link löschte. Im Nachhinein ergab sich, dass der Täter aus dem Mandalay Bay-Hotel in Las Vegas nicht derjenige war, der im 4chan-Hoax verbreitet wurde. Geary Danley gibt es wirklich und er hatte nichts mit dem Amoklauf zu tun. Die Autoren der 4chan-Posts, die den Hoax in die Welt setzten, werden hingegen vom black screen der Anonymität geschützt.
(1) Opilowski, Roman: Interaktion und Wissen im politischen Internet-Meme – Ein deutsch-polnischer Vergleich, in Baechler/Eckkrammer/Müller-Lancé/Thaler (Hrsg.): Medienlinguistik 3.0, Frank&Timme GmbH, Berlin 2016, S. 214 |
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung des Autors und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de. |
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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