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28 Oktober 2015

“Beasts of no Nation” auf Netflix und die Veränderungen in der Distributionspolitik von Filmen

Mitte Oktober startete unter großer medialer Beachtung der Film “Beasts of no Nation” auf Netflix. Das Drama um Kindersoldaten in Westafrika ist nicht nur aufgrund seiner inhaltlichen Qualität, sondern auch wegen seiner Distribution bemerkenswert: Parallel zum Start auf der Video-on-demand-Plattform lief der Film auch in einigen amerikanischen und britischen Kinos an. Dies stellt daher eine interessante Fallstudie als day-and-date-release (die parallele Auswertung von Filmen im Kino und im Internet) dar. Die betriebswirtschaftlichen Hintergründe dieser Distributionspolitik sollen in diesem Artikel erörtert werden.

Der Film wurde mit einem Budget von ca. sechs Millionen Dollar unter der Regie von Cary Fukunaga produziert und war unter anderem in Venedig für den Goldenen Löwen nominiert (vgl. Frater 2014, o. S. und Pulver 2015, o. S.). Nach mehreren erfolgreichen Festivalteilnahmen erwarb Netflix die Verwertungsrechte für ca. zwölf Millionen Dollar (vgl. McNary 2015, o. S.) und wollte den Film ursprünglich parallel zu einem großen Kinostart auf seiner Plattform auswerten. Dies boykottierten jedoch einige große Kinoketten, so dass der Film nur in einigen wenigen Arthouse-Kinos in den USA und Großbritannien lief. Nichtsdestotrotz ist diese parallele Auswertung insofern revolutionär, als sie dem  in den vergangenen Jahrzehnten etablierten Modus entgegenlief, dass als erste Auswertungsstufe des Produkts Film die Kinos ein exklusives Fenster mit einer Dauer von ca. 90 Tagen zur Verfügung hatten. Diese  Praxis gerät immer mehr unter Druck.

Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive besteht für den Produzenten bzw. den Inhaber der Verwertungsrechte das Problem in der Distribution des FIlms, mit anderen Worten darin, sein Produkt an den Kunden auszuliefern. In analogen Zeiten war dies für Filmproduzenten eine Herausforderung, da die Herstellung von Filmkopien teuer war. Es lohnte sich nicht, eine Kopie für jeden einzelnen Kunden herzustellen, bzw. der Filmkonsum wäre für den Kunden unbezahlbar geworden. Davon abgesehen hätte der Produzent schon nicht die technischen Möglichkeiten dafür gehabt. In dieser Situation schien es der beste Weg zu sein, die Filme in Kinos zu verwerten, da so viele Kunden das Produkt gleichzeitig rezipieren konnten. Mit dem Aufkommen des Fernsehens entstand ein weiterer Distributionskanal für Filme. Nun übernahmen zusätzlich TV-Sender die Distribution der Endprodukte an den Kunden. Dieser Weg war kostengünstiger, da die Sender gleichzeitig eine noch größere Zahl an Endkunden erreichen konnten. Im Zuge der zunehmenden Individualisierung und Autonomisierung der Kunden entstand, zusammen mit der technischen Entwicklung des VHS-, bzw. DVD- und späteren BlueRay-Recorders, ein neuer Vertriebsweg entsprechend der Kundenwünsche nach einer selbstbestimmten Zeiteinteilung beim Konsum. Mit der zunehmenden Verbreitung von Breitband-Internetanschlüssen wird es nun für die Produzenten technisch möglich, ihre Produkte selbst direkt an die Kunden auszuliefern. Diese Strategie verfolgen die Video-on-demand Plattformen, indem sie Eigenproduktionen herstellen und alle Nutzungsrechte behalten und dann die Filme direkt selbst auswerten können. Die Auswertung von Filmen über verschiedene Vertriebskanäle und die damit verbundene Etablierung der verschiedenen Auswertungsfenster stellt somit aus betriebswirtschaftlicher Perspektive eine historisch gewachsene Tatsache dar, die einen sehr differenzierten Markt mit vielen unterschiedlichen Teilnehmern geschaffen hat. Der Blick in die Historie zeigt auch, dass es sich bei dieser Marktstruktur um ein lebendiges Konstrukt handelt, dass sich durch das Aufkommen weiterer Vertriebsmöglichkeiten stets verändert hat.

Nun handelt es sich bei der Filmherstellung um ein Produkt mit sehr hohen first copy-costs. Das heißt, dass die Produktion der ersten Kopie des Films sehr teuer ist, jede weitere Kopie hingegen, vor allem bei einer digitalen Distribution, sehr wenig kostet. Die verschiedenen Auswertungsfenster in der Filmdistribution haben sich auch entwickelt, um diese hohen Produktionskosten zu refinanzieren. Hierdurch wurde es möglich, ein Produkt mehrfach zu verkaufen und so höhere Einnahmen zu erzielen.

Aus Perspektive mancher Kunden ist es wichtig, den Film möglichst früh auf einer großen Leinwand zu sehen. Andere warten lieber und konsumieren den Film bequem zu Hause‚ on demand‘, während Weitere mit der noch späteren Auswertung im frei empfangbaren Fernsehen zufrieden sind. Die verschiedenen Auswertungsformen haben sich also auch entsprechend der verschiedenen Kundenbedürfnisse entwickelt.

Eine ähnliche Entwicklung beginnt sich auch bei der Online-Distribution abzuzeichnen, indem Inhalte zunächst auf abonnementfinanzierten und später auf werbefinanzierten Plattformen ausgespielt werden. Hier besteht das Potential neuer differenzierter Auswertungsfenster zugunsten einer besseren Refinanzierung und Befriedigung von Kundenwünschen.

Die zunehmende Verbreitung von abonnementfinanzierten Video-on-demand Plattformen belegt, dass es eine wachsende Zahl an Kunden gibt, die Filminhalte gerne auf diesem Weg konsumieren. Insofern scheint die Erstverwertung auf diesen Plattformen ein Schritt hin zu einer optimierten Kundenansprache zu sein. Ein anderer Aspekt der digitalen Distribution, die Verhinderung der Verbreitung illegaler Kopien, soll in diesem Artikel nur kurz angesprochen werden: die Erstverwertung im Internet kann nämlich auch ein Instrument im Kampf gegen die illegale Nutzung sein (vgl. Bird und Jain 2009, S. 66).

Die Einführung der sogenannten day-and-date Verwertungsstrategie wurde mit “Beasts of no Nation” nicht das erste Mal erprobt. Andere, zahlenmäßig wenig erfolgreiche, Beispiele sind Steven Soderberghs “Bubble” von 2005 oder “Love Steaks” von Jacob Lass aus dem Jahr 2013. Zwar veröffentlicht Netflix keine Abrufzahlen zu einzelnen Filmen auf der Plattform, so dass es schwer fällt, den Erfolg von “Beats of no Nation” zu bewerten. Der Blick auf die Zahlen aus den ersten Tagen der Kinoauswertung zeigt aber, dass der Film nicht besonders gut angelaufen ist. So spielte der Film am Startwochenende in den USA lediglich 50.000 US-Dollar ein und lag damit noch hinter vergleichbaren Arthouse-Filmen. Auf der Plattform hingegen gibt Netflix an, dass der Film mehr als drei Millionen mal allein in den USA gestreamt wurde und weltweit der erfolgreichste Film auf der Plattform war, ohne exakte Zahlen zu nennen (Bernstein 2015 o.S.). Daher scheint es naheliegend, dass der Kinostart als Voraussetzung für die Teilnahme an der Oscar-Verleihung für Netflix Bedeutung hat, Gewinnabsichten in der Kinoauswertung hingegen nicht ausschlaggebend sind, wie es Ted Sarandos, Chief Content Officer von Netflix selbst sagt (vgl. Robehmed 2015, o. S.). Dass Netflix dabei auf einen langfristigen Erfolg dieser Strategie setzt, lässt sich auch an den Ankündigungen, weitere Filme als Eigenproduktion ebenfalls zuerst auf ihrer Plattform zu veröffentlichen, erkennen (vgl. Perez 2015, o. S.).

Wie reagieren nun die etablierten Marktteilnehmer auf diese Entwicklungen? Vielfach zeigt man sich besorgt und befürchtet, Nachteile durch das Aufkommen neuer Marktteilnehmer (vgl. Knott 2013, o. S.). Auch das ist jedoch  keine neue Erscheinung. So weigerten sich die Kinos beim Aufkommen des Fernsehens zunächst, ihre Filme über diesen Kanal auszuwerten, bis die Sender anfingen ihre eigenen Inhalte zu produzieren (Balio 1985, S. 547).

Aus einer medientheoretischen Perspektive lässt sich feststellen, dass noch kein altes Medium durch die Einführung eines neuen Mediums verdrängt wurde (Riepl 1913). Wie etablierte Medienunternehmen auf den Markteintritt neuer Marktteilnehmer reagieren, haben Caves und Porter (1977) aus einer betriebswirtschaftlichen Perspektive untersucht. Als eine der dargestellten Strategien bietet eine Produktdifferenzierung die Möglichkeit, sich weniger abhängig zu machen und weitere Einnahmequellen zu erschließen (Caves und Porter 1977, S. 245). Ebenso eignet sich vertikale Integration bestehender Firmen, um eine Marktmacht aufzubauen und so gegenüber neuen Marktteilnehmern konkurrenzfähig zu bleiben.

So stellt die dargestellte Auswertung “Beasts of Nation” noch keine umfassende Revolution an sich dar, ordnet sich aber als Teil größerer Marktveränderungen in die Reform der etablierten Auswertungsfenster ein und fordert so bestehende Marktstrukturen heraus.


Referenzen:

Foto: User:agnellina / FlickrCC BY-NC-ND 2.0

Dieser Beitrag ist Teil der regelmäßig erscheinenden Blogartikel der Doktoranden des Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft. Er spiegelt weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wieder. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de.

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Urs Kind, Dr.

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