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Drei Gruppen von Menschen haben Formen über sich, die zwischen ihnen und in Richtung eines Papiers hin und her reisen. Die Seite ist ein einfaches Rechteck mit geraden Linien, die Daten darstellen. Die Formen, die auf die Seite zusteuern, sind unregelmäßig und verlaufen in gewundenen Bändern.
04 November 2024| doi: 10.5281/zenodo.14044952

Beschäftigte durch Daten stärken

Beschäftigte und ihr Arbeitsumfeld werden zunehmend datafiziert. Zwar haben bereits viele Studien untersucht, wie diese beschäftigtenbezogenen Daten für Managementzwecke genutzt werden, etwa im Rahmen von People Analytics und algorithmischem Management. Weniger erforscht ist jedoch, wie Beschäftigte und ihre Vertreter*innen diese Daten für ihre eigenen Ziele nutzen können. Dieser Blogartikel untersucht daher, wie Beschäftigte sich organisieren und Daten gezielt nutzen können, um ihre Anliegen und ihre Interessen besser zu vertreten.

Die Idee, beschäftigtenbezogene Daten zur Unterstützung von Arbeitnehmeranliegen zu nutzen, ist sicherlich nicht neu. So ist die Durchführung von Umfragen unter den Mitgliedern eine bewährte und gut erprobte Methode von Gewerkschaften weltweit. Tatsächlich argumentiert Calacci (2022), dass die Idee einer kollektiven Stimme der Arbeiter*innen ein Verständnis ihrer kollektiven Wünsche voraussetzt – was offensichtlich eine informationsgestützte Praxis darstelle. Was wir heute in der Arbeitswelt beobachten, geht jedoch weit über die Erhebung von Daten durch einfache Umfragen hinaus. Arbeitnehmer*innen hinterlassen im Laufe ihres Arbeitstages eine Vielzahl digitaler Spuren, die in Daten umgewandelt und mit immer komplexeren und teils undurchsichtigen Methoden analysiert werden können (Leonardi, 2021). 

Wie Daten das Beschäftigungsverhältnis verändern

Im Rahmen der Datenerfassung am Arbeitsplatz fließen die Daten von Mitarbeitenden typischerweise direkt an ihre Arbeitgeber (Calacci, 2022). Dies kann zu einer Datenasymmetrie führen, die Mitarbeitende in einen Informationsnachteil versetzt und Machtungleichgewichte schafft. Diese Problematik zeigt sich am deutlichsten, aber nicht ausschließlich, auf digitalen Arbeitsplattformen, wo sie zunehmend Widerstand gegen datenbasierte Ungleichheiten hervorruft (Kellogg et al., 2020). In traditionellen Unternehmen wird mitarbeiterbezogene Datenanalyse genutzt, um dringende Fragen des Managements zu beantworten, zum Beispiel, ob das Unternehmen von einem Arbeitskräftemangel betroffen sein könnte oder um die Gründe für Kündigungen zu ermitteln. Solche Analysen können wertvolle Einblicke liefern und Managemententscheidungen unterstützen. Dieser Prozess wird als People Analytics bezeichnet

Perspektivenwechsel: Beschäftigte durch Daten stärken

Doch wie sieht es mit den drängenden Fragen der Mitarbeitenden und ihrer Vertreter*innen aus? Inwieweit können Daten genutzt werden, um diese zu beantworten? In einem Interview, das wir 2021 mit einer Arbeitnehmervertreterin führten, erläuterte sie das Potenzial hierfür wie folgt:

“Ich sehe viele Chancen, Daten, auf die wir Zugang haben, auf neue Weise auszuwerten. So könnten einzelne Beobachtungen wie „jemand wird benachteiligt, weil er in Teilzeit arbeitet“ oder „jemand wird aufgrund seines Geschlechts benachteiligt“ durch einen statistischen Wert gestützt werden. Wenn ich Zahlen, Daten und Fakten vorlegen kann und z.B. zeigen kann, dass von 100 Teilzeitbeschäftigten nur eine*r tatsächlich Karriere gemacht hat, erzielt das eine ganz andere Wirkung. Mit klugen Datenanalysen und -auswertungen ließe sich die Interessenvertretung der Arbeitnehmenden durchaus neu gestalten.”

Ähnlich beschreibt ein Vertreter von Schwedens größter Gewerkschaft im Economist 2018, dass Algorithmen die Wahrscheinlichkeit von Entlassungen vorhersagen könnten, zum Beispiel wenn ein neuer CEO übernimmt, was Arbeitnehmervertretern ermöglicht, Mitglieder frühzeitig zu informieren. Im Projekt Zwischen Autonomie und Überwachung betrachten wir deshalb nicht nur, wie People Analytics arbeitnehmerfreundlicher gestaltet werden kann (Köhne et al., 2024), sondern auch, wie Arbeitnehmer selbst datengestützte Maßnahmen anführen können.

Wege um Zugang zu beschäftigtenbezogenen Daten zu erlangen

Für die Arbeit von Gewerkschaften und anderen Arbeitnehmervertretungen ist der Zugang zu Informationen entscheidend (Calacci, 2022). Wenn sie also neue Quellen an beschäftigtenbezogenen Daten analysieren möchten, um beispielsweise ein besseres Verständnis von Dynamiken der Arbeitsüberlastung zu gewinnen, wie können sie Zugang zu diesen Daten erlangen? Erstens können sie beim Arbeitgeber vorhandene Daten anfordern. Zum Beispiel können Betriebsräte Berichte oder Analysen über die Vielfalt der Belegschaft anfordern. Dies erfordert jedoch die Einhaltung des Datenschutzes und die Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern, was herausfordernd sein kann, da diese entscheiden, welche Daten gesammelt und sichtbar gemacht werden (Calacci, 2022). Zweitens können Arbeitnehmervertretungen eigene Daten generieren, etwa durch Umfragen, um die Erfahrungen und Meinungen der Beschäftigten zu erfassen (Mateescu, 2023). Dies ermöglicht zwar mehr Kontrolle, erfordert aber auch deutlich mehr Ressourcen. 

Datengestützte Arbeitnehmervertretung in der Praxis

Während viele Beispiele für datengestützte Arbeitnehmervertretung aus dem Kontext der Plattformarbeit stammen, wie der Shipt Transparency Calculator und RooParse zur Verbesserung der Lohntransparenz, gibt es auch darüber hinaus einige Initiativen. Ein viel zitiertes Beispiel ist WeClock, eine Self-Tracking-App, die es Arbeitnehmern ermöglicht, unbezahlte Arbeit, nicht genommene Pausen oder Arbeitsbelastung zu erfassen. Die Daten werden lokal auf den Geräten der Arbeitnehmenden gespeichert, können aber mit Gewerkschaften und anderen Organisationen geteilt werden. The Time Project wiederum ist ein anonymes Datenerfassungsinstrument zur Bekämpfung von Überarbeitung in der Fernsehbranche. Nutzer*innen können nachverfolgen, wie viele (unbezahlte) Stunden sie pro Woche arbeiten und erhalten Vergleichsdaten zu Stunden und Löhnen. Aggregierte Daten beweisen Überstunden und können genutzt werden, um für bessere Arbeitsbedingungen in der Branche einzutreten. 

Ziele und Anforderungen

Zusätzlich zu den oben genannten Beispielen gibt es weitere Initiativen in Basisbewegungen und traditionellen Gewerkschaften. Diese Initiativen verfolgen verschiedene Ziele:

  • Schaffung von Verantwortlichkeit durch das Aufzeigen von Problemen am Arbeitsplatz, z. B. durch selbst erhobene Daten zum Wohlbefinden; 
  • Anfechtung von Behauptungen des Arbeitgebers, z. B. durch Gegendaten zur Zeiterfassung; 
  • Verbesserung der Verhandlungsposition, z. B. durch aggregierte Daten über Kompetenzen und erwartete Engpässe; 
  • Aufbau von Solidarität und Gewinnen von Mitgliedern, z. B. durch Erfassung gemeinsamer Erfahrungen. 

In einem Workshop, den wir kürzlich für Vertreter*innen von Arbeitnehmenden organisiert haben, wurde deutlich, dass viele Teilnehmende Potenzial in der Nutzung von Daten zur Beantwortung von Fragen sehen, die für die Arbeitnehmende relevant sind, z. B. in Bezug auf Lohntransparenz, strategische Personalplanung, Zeiterfassungsdaten im Zusammenhang mit Fernarbeit, Personalentwicklung oder Gleichstellung am Arbeitsplatz. 

Die dafür erforderlichen Ressourcen werden jedoch als große Herausforderung angesehen. Eine Analyse der Reaktionen von Gewerkschaften auf Scientific Management in der Mitte des 20. Jahrhunderts zeigte, dass Gewerkschaften zwar Datentransparenz forderten („show me“-Ansatz) und eigene Umfragen zu Löhnen in Umlauf brachten, aber der Durchführung eigener Zeitstudien eher skeptisch gegenüberstanden. Diese seien zu langwierig und teuer und erforderten technisches Fachwissen, zu dem nur wenige Gewerkschaften Zugang hatten (Khovanskaya et al., 2019). Um Arbeitnehmerinteressen mit Daten zu vertreten, sind unter anderem Datenkompetenz, technische Infrastruktur und Konzepte für eine sichere Data Governance erforderlich (Nyman et al., 2024). Wie bei People Analytics seitens des Managements ist die reine Datenmenge wenig wert; um sie nutzbar zu machen, braucht es erhebliche Ressourcen. Laut unserer Workshop-Teilnehmer*innen stehen sie derzeit vor zwei zentralen Herausforderungen: Erstens fehlt ihnen oft das Bewusstsein für verfügbare Daten, Systeme und Methoden, um eigene Anwendungsfälle zu entwickeln. Zweitens haben sie oft Schwierigkeiten, von der Geschäftsleitung Zugang zu vorhandenen Daten zu erhalten. Die Diskussionen während unseres Workshops machten deutlich, dass es notwendig ist, Best Practices und bewährte Anwendungsfälle zu zeigen, die für die Arbeitnehmervertreter*innen von Nutzen sein können.

Auf dem Weg zu arbeitnehmergeführten Datenprojekten

Daten können zwar aussagekräftige Einblicke in die heutige Arbeitswelt bieten, es kommt jedoch darauf an, wer die Kontrolle über diese Daten hat. Beschäftigtendaten selbst sind nicht neutral, sondern politisch und über ihre Bedeutung lässt sich streiten. Datenanalysen erzeugen Wissen über den Arbeitsplatz und es ist wichtig, dass Arbeitnehmer an dieser Wissensproduktion teilhaben. Die Interessen derjenigen, die People-Analytics-Projekte leiten, sind direkt und indirekt in den Fragen, Werkzeugen oder Metriken enthalten. Unser Projekt hat Erkenntnisse dazu geliefert, wie People Analytics beschäftigtenorientierter gestaltet werden kann (Köhne et al., 2024). Aus der Perspektive der Arbeitnehmenden hat dies jedoch Grenzen, denn – trotz des datengetriebenen Versprechens – sind People-Analytics-Prozesse weiterhin durch menschliche Urteile und Entscheidungen geprägt. Künftige Forschung sollte daher die Datenfikierung der Arbeitswelt nicht nur aus der Perspektive des Managements, sondern auch der Arbeitnehmer und ihrer Ziele betrachten. Hierzu könnten Forscher*innen auf den laufenden Debatten über „worker data science“ (Gallagher et al., 2023), „digital workerism“ (Woodcock, 2021) und „data-driven labour organizing“ (Nyman et al., 2024) aufbauen. All dies wirft die Frage auf, wie man nicht nur People Analytics des Managements entgegentreten kann, sondern produktive Wege der Zusammenarbeit entwickelt, um Daten so zu nutzen, dass sowohl das Management als auch die Arbeitnehmenden davon profitieren. Die Beantwortung dieser Frage erfordert mehr Forschung in diesem Bereich, aber auch Förderung der Entwicklung praktischer Instrumente und Erkenntnisse.

Referenzen

Calacci, D. (2022). Organizing in the end of employment: Information sharing, data stewardship, and digital workerism. 2022 Symposium on Human-Computer Interaction for Work, 1–9. https://doi.org/10.1145/3533406.3533424

Technology may help to revive organised labour. (15.11.2018). The Economist. https://www.economist.com/briefing/2018/11/15/technology-may-help-to-revive-organised-labour 

Gallagher, C., Gregory, K., & Karabaliev, B. (2023). Digital worker inquiry and the critical potential of participatory worker data science for on‐demand platform workers. New Technology, Work and Employment, 1-21. https://doi.org/10.1111/ntwe.12286 

Kellogg, K. C., Valentine, M. A., & Christin, A. (2020). Algorithms at work: The new contested terrain of control. Academy of Management Annals, 14(1), 366–410. https://doi.org/10.5465/annals.2018.0174 

Khovanskaya, V., Dombrowski, L., Rzeszotarski, J., & Sengers, P. (2019). The tools of management: Adapting historical union tactics to platform-mediated labor. Proceedings of the ACM on Human-Computer Interaction, 3(CSCW), 1–22. https://doi.org/10.1145/3359310 

Köhne, S., Klöpper, M., von Richthofen, G., & Send, H. (2024). Autonomer dank Algorithmen? People Analytics aus Perspektive der Selbstbestimmung. WSI-Mitteilungen, 77(1), 18–25. https://doi.org/10.5771/0342-300X-2024-1-18 

Leonardi, P. M. (2021). COVID‐19 and the new technologies of organizing: Digital exhaust, digital footprints, and artificial intelligence in the wake of remote work. Journal of Management Studies, 58(1), 249–253. https://doi.org/10.1111/joms.12648 

Mateescu, A. (2023). Explainer: Challenging worker datafication. Data & Society.

Nyman, S., Benfeldt, O., Gierlich-Joas, M., Bagger, C., Zambach, S., Blicher, A., Mazumdar, S., & Nã, J. (2024). From algorithmic management to data- driven labour organising. A trade union approach to workplace datafication. Scandinavian Journal of Information Systems, 13-38. Woodcock, J. (2021). Towards a digital workerism: Workers’ inquiry, methods, and technologies. NanoEthics, 15(1), 87–98. https://doi.org/10.1007/s11569-021-00384-w

Bildnachweis

Yasmine Boudiaf & LOTI / Better Images of AI / Data Processing / CC-BY 4.0. https://betterimagesofai.org/images?artist=YasmineBoudiaf&title=DataProcessing

Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

Sonja Köhne

Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Innovation, Entrepreneurship & Gesellschaft

Nele Buß

Studentische Mitarbeiterin: Innovation, Entrepreneurship & Gesellschaft

Georg von Richthofen, Dr.

Senior Researcher & Projektleiter: Innovation, Entrepreneurship & Gesellschaft

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Assoziierter Forscher: Innovation, Entrepreneurship & Gesellschaft

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