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16 Februar 2016

Big Data für die Gesundheit: Heilsbringer der Medizin oder Werkzeug zur Entsolidarisierung?

Big Data ist in der Medizin auf dem Vormarsch. Darüber herrscht bei Akteuren wie Beobachtern der Branche Einigkeit. Immer leistungsfähigere Hard- und Software ermöglicht es, die ebenso stetig wachsenden Datenmengen aus Abrechnungs- und Behandlungsakten, Untersuchungsergebnissen und neuerdings auch Fitnessdaten auszuwerten, die mittlerweile zumeist schon in digitaler Form vorliegen.

Deutlich komplexer als die bloße Feststellung des Umstandes ist jedoch Beantwortung der Frage, wer wie von der wachsenden Big-Data-Nutzung profitieren wird. Dies zeigte Mitte Februar auch eine Diskussionsveranstaltung des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft und des Vodafone Institut zum Thema. Medizinforscher, wie im konkreten Fall Christof von Kalle, betonen vor allem die sich eröffnenden Möglichkeiten: Big Data ist ein Schritt hin zur individualisierten Therapie. Statt grob über den Daumen gepeilter Behandlung könnte durch Datenauswertung für jeden Patienten entsprechend seiner Körper- und Krankheitseigenschaften die wahrscheinlich wirksamste Therapie identifiziert werden. Auch ließe sich durch Identifikation von Risikofaktoren die Krebsprävention verbessern.

Großes Potential sehen auch die Versicherungen. Christian Klose, Geschäftsführer Markt der AOK Nordost, hob in seinen Ausführungen vor allem die Bedeutung von Big Data als Innovationsmotor hervor, der etwa zu Fortschritten in der Versorgungs führen könne. Auch könnten die Krankenkassen durch Auswertungen und Verbindung verschiedenster Daten ihren Mitgliedern für bestimmte Erkrankungen die jeweils beste medizinische Betreuung empfehlen und Abrechnunsbetrug erkennen.

Ist Big Data in der Medizin also ein Heilsbringer? Ingrid Schneider, Politologin der Uni Hamburg, die sich seit vielen Jahren intensiv mit der Abschätzung der Folgen technischen Fortschritts beschäftigt, hat da ihre Zweifel. So bestehe etwa in der Forschung die Gefahr, dass angesichts der Datenmengen bloße statistische Korrelationen als Kausalitäten missgedeutet werden könnten. Gravierender sind die potentiellen Risiken von Big Data bei allen Chancen auf bessere Behandlung jedoch für den einzelnen Bürger – oder im Gesundheitswesen – Patienten. Schneider fürchtet hier eine Machtverschiebung zu Ungunsten der Patienten, die künftig einer stärkeren Kontrolle unterworfen sein könnten.

Ihre Kritik veranschaulichte sie vor allem am aktuellen Trend Fitnesstracker. Die meist am Handgelenk getragenen Minicomputer erfassen je nach Modell etwa die Herzfrequenz, Schlafqualität, tägliche Schrittzahl oder das Körperfett des Trägers. Derartige Wearables sind ein großer Wachstumsmarkt, betonte Schneider. Fitnesstracker würden vor allem verwendet, um mehr Kontrolle über den eigenen Körper und die eigene Gesundheit zu haben. Auch Neugier sei ein wesentliches Anschaffungsmotiv, zitierte Schneider eine Yougov-Umfrage aus dem vergangenen Jahr. Demnach wäre ein Gros der Nutzer auch durchaus damit einverstanden, Dritten einen Zugriff auf ihre Daten zu gewähren – allerdings nur ausgewählten. Während etwa zwei Drittel eine Verwendung durch den Hausarzt gutheißen würden, wünscht nur ein Viertel eine Weitergabe der Daten an die Krankenkasse und beim Arbeitgeber tendiert die Zustimmung stark gegen null.

Nichtsdestotrotz besteht bei den Versicherern großes Interesse an den Fitnessdaten: TK-Chef Jens Baas sorgte Anfang Februar für Aufregung als er vorschlug, auch diese in einer elektronischen Patientenakte der Mitglieder zu speichern. Schneider sieht in derartigen Überlegungen eine Gefahr: „Bisher sind Fitnesstracker Gadgets: Man kann sie tragen oder nicht. Je mehr sie jedoch in Systeme einbezogen sind, desto stärker stellt sich die Frage der Freiwilligkeit.“ Entspringt die Anschaffung noch dem Wunsch nach Selbstkontrolle oder spielen eher sozialer Druck, Druck durch Prämienmodelle der Krankenkassen oder vom Arbeitgeber die Schlüsselrolle? Schneider berichtete von Fällen in den USA, in denen schon jetzt Firmen ihre Mitarbeitet drängen, Fitnesstracker zu tragen, um von den Versicherungen günstigere Gruppenkonditionen zu bekommen.

Die Politologin warnte: „Wir müssen aufpassen, dass solche Gadgets nicht zur Entsolidarisierung führen.“ Bisher ist Krankheit, zumindest in den gesetzlichen Kassen, ein solidarisch abgesichertes Risiko. Alter, Geschlecht und Risikofaktoren spielten für den Beitragssatz keine Rolle. Schneider sieht die Gefahr, dass die Verwendung von Big Data zu Social Sorting führen könnte, also der Bildung von Risikogruppen anhand bestimmter Merkmale, für die dann höhere Beiträge verlangt werden. Zudem könnten etwa besagte Trackerdaten zur Folge haben, dass Krankheiten stärker auf das individuelle Gesundheitsverhalten zurückgeführt würden und soziale wie umweltbedingte Determinanten unberücksichtigt blieben. Erkrankungen könnten künftig als selbstverschuldet gesehen werden, Menschen, die nicht ständig etwas für ihre Gesundheit tun, im Extremfall sogar aus Versicherungen ausgeschlossen werden. „Dabei wird vergessen, dass Gesundheit auch sehr viel mit Schicksal zu tun hat“, klagt Schneider.

Versicherer Klose stand der Thematik Fitnesstracker naturgemäß entspannter gegenüber und betonte, er glaube nicht daran, dass diese zur Pflicht werden könnten. Die AOK brachte erst im Januar eine App auf den Markt, mit der die Mitglieder für ihre mittels Trackern erhobenen Fitnessaktivitäten Bonuspunkte erhalten, die sie in Geld- oder Sachprämien umwandeln können. Es gehe dabei um Belohnung für die Teilnahme und nicht um Bestrafung der Nichtteilnahme. „Das sind zwei Seiten einer Medaille“, konterte Schneider.

Als weiteres Problem für den Patienten, das beim Einsatz von Big Data gelöst werden muss, offenbarte sich in der Diskussion der Datenschutz. Alle drei Diskutanten betonten dessen Bedeutung, allerdings bis zu unterschiedlichen Grenzen. So erklärte etwa von Kalle: Der Datenschutz dürfe nicht soweit ausgedehnt werden, dass dabei der Patientenschutz gegen die Erkrankung verloren geht.

Der Datenschutz ist zudem ein wichtiger Baustein, um eine breite Zustimmung zur Big-Data-Nutzung zu gewinnen. Ohne das Gefühl, dass ihre Daten bei den Verwertern, wie etwa Versicherungen oder medizinischen Forschungseinrichtungen, in vertrauenswürdigen Händen sind, werden viele Patienten bei der Einwilligung der Weiterverwertung ihre Daten, beispielsweise in Chronikerprogrammen, zögern.

Derzeit liegt das Gros der Daten des Einzelnen, die als Teil der Big Data genutzt werden können, außerhalb seines Zugriffs- und damit Kontrollbereichs auf Servern von Versicherern, Krankenhäusern oder auch Anbietern von Fitnesstrackern. Entsprechend ist der Patient darauf angewiesen, dass diese seine Daten nicht etwa zu kommerziellen Zwecken missbrauchen. Dagegen gibt es zwar gesetzliche Regelungen, doch wies Schneider daraufhin, dass etwa Trackerdaten in Clouds gespeichert würden, deren Server vielfach nicht in Deutschland oder Europa stünden und somit außerhalb der hiesigen Gesetze.

Auch die Datenschutzbestimmungen, die Patienten und Nutzer vor Weitergabe ihrer Daten unterschreiben müssten, sind nur ein schwacher Schutz. Da sie oft äußerst lang und mit komplexen juristischen Formulierungen gespickt sind, bleiben die genauen Weitergaberegeln für den Verbraucher oft ein Mysterium, dem er meist ungelesen oder zumindest unverstanden zustimmen muss, will er auf eine Leistung nicht verzichten. Abhilfe könnten hier letztlich wohl nur konkrete gesetzliche Vorgaben leisten– und eine konsequente Umsetzung der bestehenden Regeln.

 

Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

Robert Briest

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