Unsere vernetzte Welt verstehen
Content Moderation auf digitalen Plattformen: Eine intensivere Drittwirkung der Meinungsfreiheit?
Inwieweit können und sollten digitale Plattformen an die Meinungsfreiheit gebunden sein, obwohl sie private Unternehmen sind? Diese Frage ist von zentraler Bedeutung für das vielfach diskutierte Problem der Inhaltemoderation (im Englischen: Content Moderation) in Sozialen Medien. Eine Lösung könnte eine intensivere Drittwirkung der Grundrechte sein, mit der ich mich in meiner Dissertation auseinandergesetzt habe. Dieser Artikel fasst meine Untersuchung aus einer verfassungsrechtlichen Perspektive zusammen.
Wie Social Media-Plattformen Kommunikationsordnungen prägen
Digitale Kommunikationsplattformen sind keine neutralen Akteure: Google blockiert Anzeigen in Russland und löscht YouTube-Videos, die den Krieg verharmlosen. Twitter weigert sich, Tweets zu empfehlen, die auf russische Staatsmedien verweisen. Und TikTok setzt als Reaktion auf das russische sog. Fake-News-Gesetz alle Video-Uploads aus dem Land aus. Alle großen Social Media-Plattformen haben im letzten Jahr Ad-hoc-Maßnahmen ergriffen, die über ihre bisherige Firmenpolitik hinausgehen oder ihr sogar widersprechen. Für diese Technologieunternehmen, die de facto zu Verwaltern von Online-Kommunikation geworden sind, ist es wichtig, schnell auf globale Ereignisse zu reagieren und ihre Regeln gegebenenfalls zu ändern. Aber wie weit reicht ihre Freiheit, über die Äußerungen von Millionen von Nutzerinnen und Nutzern zu entscheiden? Wann und wie sollten Plattformen an die Meinungsfreiheit gebunden sein?
Die Debatte über die zunehmende Privatisierung des öffentlichen Raums ist nicht neu. Man denke nur an die Diskussionen um die Privatisierung des öffentlichen Raums in Großstädten oder von öffentlichen Dienstleistungen. Im Internet ist dies jedoch ein strukturelles Problem. Alles, was das Internet ausmacht – von der zugrundeliegenden Infrastruktur bis zu den sichtbaren Inhalten auf der Oberfläche – wird von privaten Unternehmen angeboten, während sich gleichzeitig große Teile des gesellschaftlichen Lebens dorthin verlagern. Meine Dissertation, auf die sich dieser Blogbeitrag stützt, befasst sich mit der Frage des Schutzes rechtmäßiger, aber unerwünschter Äußerungen im Internet, d. h. Äußerungen, die von sozialen Netzwerken als unangemessen eingestuft und entfernt werden. Sind soziale Netzwerke mittelbar an Art. 5 Abs. 1 GG gebunden, wenn sie eine strukturell bedeutsame Rolle für die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung spielen? Wie weit reicht der Schutz von Art. 5 GG in den privatrechtlichen Bereich hinein und welche Maßstäbe gelten für die ordentlichen Gerichte, wenn sie die Nutzungsbedingungen digitaler Plattformen überprüfen?
Die Lehre der mittelbaren Drittwirkung
Um diese Frage zu beantworten, widmet sich meine Arbeit der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung im Verfassungsrecht und beschäftigt sich mit deren Entwicklung in der digitalen Gesellschaft. Seit dem Lüth-Urteil des BVerfG aus dem Jahr 1958 gilt die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung. Nach dieser Lehre strahlen Grundrechte über bestimmte gesetzliche Bestimmungen ausnahmsweise in private Rechtsverhältnisse ein. Grundsätzlich sind Grundrechte Abwehrrechte der Bürgerinnen und Bürger gegnüber dem Staat. Die Gerichte sind gehalten, bei der Auslegung des Privatrechts verfassungsrechtliche Anforderungen zu beachten. Insbesondere aus der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ergibt sich, dass Private unter bestimmten Voraussetzungen zunehmend in gleicher Weise wie der Staat an die Meinungsfreiheit gebunden sein können.
Das Konzept der mittelbaren Drittwirkung ist – über den Grundsatz an sich hinaus – kein starres, sondern eines, das weiterentwickelt werden kann. Das zeigt meine Analyse der Lehre und ihrer Anwendung durch das BVerfG. Die Lehre weist ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit auf und eignet sich gerade für jene privatrechtlichen Situationen mit hoher Grundrechtssensibilität. In anderen Worten lassen sich bestimmte Konstellationen nicht von vornherein ausschließen, sondern – im Gegenteil – die Kriterien erlauben es dem BVerfG auf solche Fälle zu reagieren, wo zumindest eine der zwei Parteien sich in ihren Grundrechten bedroht fühlt. In der Literatur wird der Lehre allerdings vorgeworfen, sie sei zu diffus und in ihrer Anwendung durch das BVerfG nicht hinreichend bestimmt. Das BVerfG könne sie quasi beliebig heranziehen. Damit bewahrt sich die Lehre jedoch auch eine Offenheit für neue Fallkonstellationen – wie wir sie derzeit auf Social Media-Plattformen beobachten. Seit dem Fraport-Urteil aus dem Jahr 2011 (BVerfGE 128, 226) hat das BVerfG mit seinen Entscheidungen den Schutz der Kommunikationsfreiheiten im privaten Kontext deutlich erhöht: Nibelungen (BVerfG, Beschl. v. 18.07.2015 – 1 BvQ 25/15), Stadionverbot (BVerfG, Beschl. v. 11.04.2018 – 1 BvR 3080/09) und III. Weg (BVerfG, Beschl. v. 22.05.2019 – 1 BvQ 42/19).* Mittelbare Drittwirkung kann eine erhöhte Intensität in Bezug auf die Grundrechtsbindung Privater bedeuten. Die Intensität dieser Bindung kann variieren, sie muss nicht “staatsähnlich oder gar nicht” sein. Je nachdem, inwieweit diese Kriterien erfüllt sind, kann es zu einer intensiveren Drittwirkung zwischen Privaten kommen, z. B. im Zusammenhang mit der Inhaltemoderation. Die Prämisse ist, dass private Akteure einen Ort der allgemeinen Kommunikation und des gesellschaftlichen Lebens zur Verfügung stellen. Darüber hinaus kommt es auf den Grad ihrer marktbeherrschenden Stellung, ihre Ausrichtung und den Grad der Abhängigkeit der Nutzer jener Plattform an.
Transatlantische Perspektive
In einem zweiten Schritt der Dissertation erfolgt ein Vergleich mit der US-amerikanischen Lehre der state action. Laut state action doctrine können Private in den USA ausnahmsweise an Grundfreiheiten gebunden sein, wenn de facto ein staatliches Handeln durch Private festgestellt wird. So bildet diese Doktrin das funktionale Äquivalent zur Lehre der mittelbaren Drittwirkung. Im Ergebnis des Rechtsvergleichs stelle ich jedoch fest, dass – aufgrund der strikten Trennung zwischen Staat und Privatparteien in den USA – die Unterschiede die funktionale Äquivalenz überwiegen. Ein weiterer Grund ist, dass die state action doctrine (im Unterschied zur Drittwirkungslehre) vom Supreme Court als verfassungsrechtliche Doktrin nicht an digitale Konstellationen angepasst wurde. Dennoch ist die Situation ambivalent und verfassungsrechtlich nicht abschließend geklärt. Einerseits hat der Supreme Court bisher davon abgesehen, die state action doctrine an die Gegebenheiten in digitalen Umgebungen anzupassen. Andererseits hat der Supreme Court 2017 soziale Netzwerke als einen “modernen öffentlichen Platz”, also einen Ort der allgemeinen Kommunikation bezeichnet (Packingham v North Carolina). Gleichzeitig steht diese Haltung im Einklang sowohl mit dem Konzept des marketplace of ideas als auch mit dem Vorrang der Vertragsfreiheit.** Sie führt im Übrigen dazu, dass soziale Netzwerke die Meinungsäußerungen ihrer amerikanischen Nutzer*innen über ihre Nutzungsbedingungen kontrollieren können – mehr als es dem Staat in den USA jemals erlaubt wäre.***
Digitale Öffentlichkeit(en)
Es bleibt die Frage, ob und wenn ja, wie das Konzept der Öffentlichkeit an den digitalen Kontext angepasst werden muss. Der Rückgriff der Rechtswissenschaft auf den Begriff der Öffentlichkeit ist freilich nicht neu. Dafür bedarf es eines erheblichen Transfers zwischen Kommunikationswissenschaft und Rechtswissenschaft. Auch diese interdisziplinäre Rückkopplung ist dem digitalen Wandel unterworfen. Allerdings ist noch nicht abschließend geklärt, welche Art von Öffentlichkeit(en) im Internet und insbesondere durch soziale Netzwerke mit nutzergenerierten Inhalten hergestellt wird (werden).
Dabei sind zwei Faktoren zu berücksichtigen. Erstens ist die nutzende Person nicht nur empfangende Person, sondern auch aktive/r Teilnehmende/r am Informationszyklus. Zweitens besteht der Zweck der Nutzung nicht ausschließlich im Empfang, sondern auch in der sozialen Interaktion mit anderen.
Funktionalitäten, die für jede/n Nutzer*in beliebig zugänglich sind und die Interaktion mit beliebig großen Nutzergruppen ermöglichen, entsprechen daher am ehesten einem öffentlichen Forum. Aber gerade dort wird die Bedeutung von Plattformen als Intermediäre am deutlichsten. Folglich muss auch die Kuratierung digitaler Öffentlichkeiten grundrechtlich geschützt werden. Die Festlegung von Kommunikationsregeln ist Ausdruck einer Ausrichtung – wie das BVerfG in seiner III. Weg-Entscheidung anerkannt hat. Dieser Ausrichtungsschutz muss berücksichtigt werden.
Eine intensivere Drittwirkung
Zusammengefasst soll das ausgearbeitete Konzept der intensiveren Drittwirkung dazu dienen, bestimmte Kriterien im Abwägungsprozess stärker zu gewichten und zum Teil Vermutungsregeln aufzustellen, die gegebenenfalls zu entkräften sind. Es bildet ein übergeordnetes Konzept für die Kombination von Kriterien aus der Rechtsprechung des BVerfGs und den Erkenntnissen der Forschung.
Im Ergebnis gilt die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung nicht unmittelbar zwischen Privaten, da die inhaltliche Überprüfung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen weiterhin den Gerichten obliegt und es nach wie vor keine absolute Vorrangregel für die Meinungsfreiheit gibt. In diesem Sinne ist es den sozialen Netzwerken erlaubt, ihr selbst definiertes Kommunikationsklima in den von ihnen zur Verfügung gestellten Räumen zu schaffen, wobei sie jedoch für die Wahrung der Meinungsfreiheit verantwortlich gemacht werden.
*Diese Entscheidungen kamen nach dem Fraport-Urteil und stellen die neue Rechtsprechung des BVerfG seitdem dar.
** S.a. Rodney A. Smolla (2019) The Meaning of the “Marketplace of Ideas” in First Amendment Law, Communication Law and Policy, 24:4, 437-475, DOI: 10.1080/10811680.2019.1660552
*** S.a. Heldt, A. P. (2019). Merging the Social and the Public: How Social Media Platforms Could Be a New Public Forum. Mitchell Hamline L. Rev., 46, 997.
Literatur
Castells, M. (2008). The new public sphere: Global civil society, communication networks, and global governance. The aNNalS of the american academy of Political and Social Science, 616(1), 78-93.
Gillespie, T. (2018). Custodians of the Internet: Platforms, content moderation, and the hidden decisions that shape social media. Yale University Press.
Klonick, K. (2017). The new governors: The people, rules, and processes governing online speech. Harv. L. Rev., 131, 1598.
Roberts, S. T. (2019). Behind the screen. Yale University Press.
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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