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02 April 2020| doi: 10.5281/zenodo.3753034

COVID-19 und die gelebte Solidarität im Netz

Die gesellschaftliche Relevanz digitaler Räume ist gegenwärtig größer denn je. Dieser Artikel beleuchtet die Auswirkung digitaler Solidaritätsaktionen während der Corona-Pandemie auf Normen und auf analoge Gegebenheiten.

Ein Artikel von Tanja Fisse und Claudia Haas.


Lange Zeit zeichnete sich kollektives Handeln dadurch aus, dass sich eine Gruppe von Menschen im physischen Raum trifft und Aktionen durchführt, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Diese Solidarität spiegelt sich z.B. in Form von Straßenprotesten oder Gewerkschaften wider. Soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram, Twitter und Co. bieten virtuelle Räume für kollektive Diskussions- und Aushandlungsprozesse. Insbesondere in Zeiten der Corona-Pandemie ist die gesellschaftliche Relevanz dieser Räume größer denn je. Kollektives Handeln im klassischen Sinne ist derzeit nicht möglich. Im Gegenteil: Von der Bundesregierung auferlegte Kontaktbeschränkungen verbieten persönliche Treffen mit mehr als zwei Menschen in der Öffentlichkeit („Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder“, 2020). Trotzdem erfährt die deutsche Gesellschaft in dieser Zeit eine Welle der Solidarität: Menschen schließen sich für gemeinsame Aktionen zusammen, z.B. indem sie den Hashtag #wirbleibenzuhause in sozialen Netzwerken verwenden, sich in Portalen zur Nachbarschafts- oder Kiezhilfe (z.B. CoronaPort.net oder Helfen.Berlin) beteiligen oder an der Online-Petition zur Hilfe von Freiberufler*innen und Künstler*innen teilnehmen. In dieser herausfordernden Situation ist die digitale Solidarität aktuell fast das einzige Mittel für kollektives Handeln. 

In diesem Artikel greifen wir solche digitalen Aktionen auf, ordnen sie in unser Verständnis von Solidarität. Wir zeigen auf, weshalb die digitale Solidarität entgegen der Meinung einiger Kritiker*innen nicht losgelöst von kollektivem Aktivismus betrachtet werden sollte, sondern als Teil davon. Hierfür führen wir aus, wie sich während der Corona-Pandemie 2020 neue Solidarnormen durch die sozialen Netzwerke etablieren.

Mit einem Click solidarisch?

Wann ist ein Post, eine Story oder ein Tweet solidarisch? Teilt ein Nutzer/ eine Nutzerin bei Instagram bspw. einen Link zu einer Online-Petition zur Unterstützung von Geflüchteten und Wohnungslosen in dieser Zeit, so ist davon auszugehen, dass diese Handlung einerseits intrinsisch motiviert ist und gleichzeitig als solidarischer Akt zu verstehen ist. Die Person teilt ihre Gedanken mit der Community und ruft sie auf, selbst zu unterschreiben.

Solidarisches Handeln im Kontext der Corona-Pandemie kann in Bezug auf verschiedene Faktoren wie die aufgewendete Zeit, Involviertheit oder eingesetzte Ressourcen variieren: Weil z.B. das Liken oder Teilen eines Aufrufs zum s.g. Social Distancing mit einer geringen Beteiligung und geringen Opferbereitschaft umzusetzen sind, werden solche Aktivitäten häufig kritisiert und als Slacktivism abgewertet. Ihnen wird zuweilen eine distanzierte Teilnahmslosigkeit, eine geringe Opferbereitschaft der Beteiligten sowie eine mangelnde Effektivität und Nachhaltigkeit der Aktionen vorgeworfen (vgl. u.a. Ebersbach & Heigl, 2005; Gladwell, 2010; Morozov, 2009, 2011; Schumann, 2014). Solche niedrigschwelligen Aktivitäten können für die Aufmerksamkeitssteigerung bei gesellschaftsrelevanten Themen – wie der Corona-Pandemie – jedoch hilfreich sein (Bennett & Segerberg, 2012; Gladwell, 2010; Morozov, 2009; Vie, 2014). Digitale Technologien haben den Aufwand für solidarisches Handeln verringert, die Effektivität dieser Anstrengungen sollte daher stets im Kontext betrachtet werden. Nicht zuletzt eröffnet der technische Fortschritt für viele die Möglichkeit, sich mit geringem Ressourceneinsatz (z.B. in Form eines Smartphones) an einem gesellschaftlichen oder politischen Diskurs zu beteiligen (Margetts, 2019, S. 108), was in früheren Zeiten schlichtweg nicht möglich war.

Das Verwenden von Hashtags, persönliche Aufrufe über private Social Media-Profile, das Anbieten von Nachbarschaftshilfe bis hin zu organisatorischen Tätigkeiten mit gesteigerter Verantwortung drücken Solidarität aus. Insbesondere letztere Aktivitäten gehen – anders als beim Teilen eines Posts – mit einem größeren Aufwand und Risiko einher. Gemein haben alle aufgeführten Arten von Aktivitäten, dass sie im weiteren oder engeren Sinne der Unterstützung einer gesellschaftlichen Sache dienen und daher solidarisch sind.

Social Distancing als neue Solidarnorm

Im Zuge der Corona-Pandemie steigt in den sozialen Medien die Anzahl der Aufrufe, Menschen sollen zuhause bleiben, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Nachrichtenmedien, bekannte Persönlichkeiten und Influencer*innen wie Lena Gercke, Jan Böhmermann, Igor Levit oder Dunja Hayali appellieren in Tweets, Instagram Posts und Live-Streams an ihre Followerschaft, das Haus nicht zu verlassen. Neben den etablierten Medien und Prominenten melden sich auch Mitarbeitende aus Krankenhäusern, dem Einzelhandel, Polizist*innen sowie Rettungsdienste wie der THW Mainz zu Wort, indem sie auf Plakaten Botschaften “Wir bleiben für euch im Dienst, bleibt ihr für uns zuhause!” verbreiten. Auch in den Beiträgen privater Nutzer*innen finden sich zahlreiche ähnliche Solidaritätsaufrufe zum s.g. Social Distancing bzw. Physical Distancing. All diesen Aufrufen zugrunde liegen der gemeinschaftliche Aspekt und die wechselseitige Verbundenheit als zentrale Werte.

Instagram launchte am Abend des 21. März einen neuen Sticker zum Hashtag #wirbleibenzuhause: Dabei erscheinen Nutzer*innen, die in ihren Stories den neuen Sticker verwenden, in einer Sammlung, die zu Beginn des Story-Feeds angezeigt wird. Aufgrund der breiten Streuung der Beiträge ausgehend von verschiedensten Personengruppen und Institutionen entwickelt sich sich das Ziel der Aufrufe immer mehr zu einer neuen Solidarnorm: Wer solidarisch handelt, bleibt zuhause und meidet soziale Kontakte. Eine paradoxe Entwicklung, wo Solidarität doch eines der Grundprinzipien des menschlichen Zusammenlebens ist. Festzuhalten bleibt, dass diese Entwicklung bereits weitgehend vor der offiziellen Kontaktbeschränkung der Bundesregierung eingesetzt hat.Aufgrund struktureller Transformation hat sich die Beziehung zwischen Individualität und Kollektivität verändert. Die Konstituierung von Individualität findet heute nicht mehr länger im Bereich des Privaten statt, sondern auf der Grundlage von sozialen Netzwerken (Stalder, 2014, S.11). In dieser autonomen Kultur der Solidarität, werden die Grenzen zwischen Individuum und System aufgelöst. So ist die neue Solidarnorm das Ergebnis eines kollektiven Aushandlungsprozesses, der zum großen Teil in den hierarchielosen Organisationsstrukturen der sozialen Medien stattgefunden hat. Solidarnormen gehen üblicherweise mit Sollens-Erwartungen von den “Akteur*innen” einher, bestimmte Opfer zugunsten anderer oder zugunsten der Gemeinschaft zu erbringen, z.B. in Form von gegenseitiger Hilfsbereitschaft (Tranow, 2012., S. 36) oder – wie in der aktuellen Situation – soziale Kontakte einzuschränken und sich in weitestgehende häusliche Quarantäne zu begeben.

Twitter, Instagram und Co.: Wichtige Orte für gemeinschaftliche Erfahrungen während der Corona-Pandemie

In sozialen Netzwerken werden Standards für zwischenmenschliche Kommunikation gesetzt, womit sie folglich eine neue Welterfahrung beschreiben. Neue Formen der Organisation von Solidarität werden ermöglicht (Stalder, 2014). Aufgrund ihrer Popularität nehmen soziale Medien wie Facebook und Instagram eine Schlüsselrolle ein: Sie ermöglichen den Aufbau von vielen schwachen Bindungen und haben so einen Einfluss darauf, wie wir heute Alltagskultur erleben. Beachtet werden sollte, dass diese Bindungen den technischen und wirtschaftlichen Bestimmungen der Plattformen unterliegen. Nichtsdestotrotz bieten sie Räume für kollektive Diskussions- und Aushandlungsprozesse. Gerade jetzt im Kontext der Corona-Pandemie zeigt sich, dass soziale Netzwerke als Chance für solidarisches Handeln verstanden werden können. Sie ermöglichen gemeinschaftliche Erfahrungen und die Kommunikation hierüber, unerheblich, ob mit bekannten oder fremden Personen. Solche gemeinsamen Erfahrungen sind in der aktuellen Krisenzeit von enormer Bedeutung, denn sie stellen eine grundlegende Bedingung für Solidarität dar.

Am Beispiel der Corona-Pandemie 2020 wird der Stellenwert sozialer Netzwerke deutlich: Sie leisten einen erheblichen Beitrag bei der Etablierung neuer Solidarnormen. War #wirbleibenzuhause zunächst ein Aufruf, entwickelte sich die Bedeutung des Hashtags durch die rasche Verbreitung in den sozialen Medien immer mehr zu einer Solidarnorm. Aktivitäten, die wir online ausführen, manifestieren sich unausweichlich in das gesamtgesellschaftliche Miteinander weil sie Teil unserer Gedanken, Meinungen und schlussendlich unserer Identität sind. Es ist daher anzunehmen, dass die zahlreichen digitalen Appelle zum Social Distancing schlussendlich einen Effekt auf das individuelle Verhalten haben. Die Menschen handeln solidarisch und bleiben zuhause. 


Tanja Fisse hat am Institut für Journalismus und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover den Masterstudiengang Medienmanagement studiert. Seit ihrem Abschluss ist sie Mitarbeiterin der Mediengruppe Madsack.


Literatur

Bennett, W. L., & Segerberg, A. (2012). The logic of connective action: Digital media and the personalization of contentious politics. Information, Communication & Society, 15(5), 739-768. doi: http://dx.doi.org/10.1080/1369118X.2012.670661

Ebersbach, A., & Heigl, R. (2005). Click here to protest? Zur Entstehung von Solidarität über das Internet und die „Thesen über den Begriff von Geschichte“ von Walter Benjamin. Tugenden der Medienkultur: zu Sinn und Sinnverlust tugendhaften Handelns in der medialen Kommunikation, 121.

Gladwell, M. (2010). Small change. The New Yorker [Online], 4(2010), 42-49. Verfügbar unter: http://www.newyorker.com/magazine/2010/10/04/small-change-malcolm-gladwell

Margetts, H. (2019). Rethinking democracy with social media. The Political Quarterly, 90, 107–123. https://doi.org/10.1111/1467-923X.12574

Morozov, E. (2009, 5. September). From slacktivism to activism. Foreign Policy [Online]. Verfügbar unter: http://foreignpolicy.com/2009/09/05/from-slacktivism-to-activism/

Scherr, A. (2013). Solidarität im postmodernen Kapitalismus. In L. Billmann & J. Held (Hrsg.). Solidarität in der Krise: Gesellschaftliche, soziale und individuelle Voraussetzungen solidarischer Praxis, 263-270.

Schumann, S. (2014). How the internet shapes collective actions. New York: Palgrave Macmillan.

Stalder, F. (2014). Digitale Solidarität. Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung

Tranow, U. (2012). Das Konzept der Solidarität: Handlungstheoretische Fundierung eines soziologischen Schlüsselbegriffs. Wiesbaden: Springer Science & Business Media.

Vie, S. (7. April 2014). In defense of „slacktivism“: The Human Rights Campaign Facebook logo as digital activism. first monday [Online], 19(4). Verfügbar unter http://firstmonday.org/article/view/4961/3868#author

Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

Claudia Haas

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