Unsere vernetzte Welt verstehen
Der Markt im Kern des Internets ist wie ein Film ohne Titel
Vergleiche hinken. Nie passen sie richtig, fast immer führen sie vom Thema weg. Und die Aufmerksamkeit des Publikums verfängt sich in unwichtigen Details. Deshalb tut man sich mit Vergleichen als Stilmittel keinen Gefallen. Das habe ich in einem Buch über das Redenschreiben gelesen (Franz 2015). Es gibt aber eine Ausnahme: den abseitigen Vergleich. Je weiter weg der Vergleichsgegenstand, umso besser. Der abseitige Vergleich soll vorführen, wie absurd eine Situation ist. – Der Markt im Kern des Internets ist wie ein Film ohne Titel.
Das Internet bekam am 30. April 1995 ein Drehbuch. Das legte ein neues Setting fest: Der Vorgänger des Internets, das Forschungsnetz NSFNET, wurde privatisiert. Kommerzieller Datenverkehr über den Internet-Backbone war fortan zugelassen (Mathew 2014:42). Und jeder sollte mitmachen dürfen. Natürlich gab es weitere Regeln. Wichtig an diesem Datum aber ist, dass das kommerzielle Internet begann. Hand in Hand mit der technischen Infrastruktur sollte sich das Internet als infrastruktureller Wirtschaftsraum entwickeln. Vor allem privatwirtschaftliche Unternehmen sollten die Netzinfrastruktur unter Marktbedingungen ausbauen und Internet-Konnektivität herstellen. Nur darüber, wie genau ein Markt im Kern des Internets aussehen könnte und was Netzbetreiber miteinander handeln würden, gab es kaum Vorgaben. Man könnte sagen, die Drehbuchschreiber hatten den Titel vergessen. Vielleicht hatten sie ihn auch absichtlich weggelassen.
Märkte brauchen Objekte
Der Marktsoziologe Patrick Aspers analysiert Märkte anhand von fünf Kriterien: 1. anhand dessen, was gehandelt wird, 2. anhand der sozialen Struktur eines Marktes, 3. anhand der Interessen der Akteure, 4. anhand der umgebenden Kultur und 5. anhand dessen, wie die gehandelten Dinge bewertet werden (Aspers 2011:82f.). Wie Netzbetreiber miteinander wirtschaften, ist unter all diesen Gesichtspunkten interessant. Aus Platzgründen beschränke ich mich hier auf das erste Kriterium, das Was eines Marktes. An welchen Leistungen oder Produkten bieten Marktteilnehmer einander Rechte an? Nur wenn das klar ist, lässt sich Aspers zufolge überhaupt von einem Markt sprechen. Bei vielen Märkten lässt sich diese Frage leicht beantworten. Der Blumen-, der Auto- oder der Devisenmarkt tragen ihr Objekt bereits im Namen. Anders ist das im Kern des Internets. Dort schalten Netzbetreiber ihre Netze technisch zusammen und erschaffen so gemeinsam das Internet. Indem die Unternehmen Internet-Konnektivität herstellen, gehen sie auch wirtschaftliche Beziehungen ein. Aber handeln Netzbetreiber etwas miteinander, und wenn ja, was? Wie lautet der Titel des Films?
Aus meinen Interviews mit 50 Netzwerkingenieuren, Peering-Koordinatoren und Industrie-Beobachtern ergibt sich ein uneinheitliches Bild. Den meisten von ihnen fällt es schwer, ein Gut oder eine Leistung zu definieren, um die es in dieser Arena geht. Die Vorstellungen vom Gegenstand des Marktes lassen sich in sechs Kategorien zusammenfassen. In der Praxis tauchen diese Ansichten häufig neben- oder sogar gegeneinander gerichtet auf.
- Netzwerk-Kapazität. Indem Netzbetreiber ihre Netze zusammenschalten, versetzen sie einander in die Lage, Datenverkehr an Endpunkte im Internet zu senden oder von dort zu empfangen. Diese Kapazität ist die Ressource, die Netzbetreiber einander anbieten. Sie messen sie in Volumen pro Zeit, das heißt in Bits pro Sekunde. Die Qualität des Objektes Netzwerk-Kapazität bestimmen Netzwerker anhand von Kriterien wie Paketverlust, Latenz oder Jitter.
- Routen. Bei der Zusammenschaltung teilen zwei Netze einander mit, welche Ziele im Internet sie auf welchen Wegen für das nun verbundene Netz erreichen können. Ziele meint hier IP-Adressen. Die “unit of commerce” ist in diesem Sinne die Route, das heißt der genaue Weg zwischen zwei Punkten im Netz. Zwei Arten von Arrangements lassen sich hier unterscheiden: Im Falle des sogenannten Peering beinhaltet die Zusammenschaltung nur, dass die Netze einander Routen zu Endpunkten im eigenen Netz und in ihren Kundennetzen öffnen, nicht aber zu Endpunkten, für die sie selbst bezahlen müssen. Im Falle von Transit bietet der Transitgeber dem Transitnehmer mehr, nämlich den Datenaustausch mit allen Endpunkten im gesamten Internet. Qualität von Routen bemessen Netzwerker zum Beispiel anhand der Länge des Pfades – je kürzer, desto besser. Seltene Routen sind mehr wert als leicht erhältliche.
- Nutzungsrechte an der physikalischen Verbindung. Aus dieser Perspektive besteht das Produkt aus den einzelnen Bestandteilen, die einem Netzbetreiber Aufwand verursachen. Das können etwa Netzwerkressourcen wie Router, Switches oder Glasfaser sein, aber auch Personal, Lizenzen oder Strom. Die Leistung im Markt liegt diesem Verständnis nach darin, dass Netzbetreiber einander Nutzungsrechte an der physikalischen und logischen Infrastruktur gewähren.
- Tausch externer Ressourcen. Im Fall von Peering – zur Erinnerung: nur eigene und Kundenrouten werden einander mitgeteilt – verlangen manche Netzwerker danach, die Zusammenschaltung als Tauschbeziehung zu verstehen. Geld kann zusätzlich fließen, muss es aber nicht. Eine häufig gebrauchte Formel für den Tausch lautet “content for eyeballs”. Netzwerke auf der einen Seite bieten direkten Zugang zu Inhalten; Netzwerke auf der anderen Seite bieten Zugang zu Endnutzern. Ein Internetzugangsanbieter kommentierte: “Ich verkaufe Zugang zu Kreditkarten.” Inhalte und Zugang zu Endkunden sind aber nicht die einzigen Ressourcen, die Netzbetreiber miteinander tauschen. Zu hören ist beispielsweise von Banken – ja, auch Banken und Versicherungen betreiben heute Netze! –, die anderen Netzbetreibern Finanzdienstleistungen gegen Zugang zu deren Internetnutzern anbieten. In beiden Varianten treten die technischen Parameter der Zusammenschaltung selbst in den Hintergrund der Tauschbeziehung. Vielmehr bringen die Akteure in die Verhandlung externe Ressourcen ein, die sie produzieren oder kontrollieren.
- Ein verbindungsorientiertes Verhältnis. Diese Auffassung greift eine Besonderheit in der technischen Architektur des Internets auf. Diese gibt nämlich weder eine Handelseinheit noch ein Dienste-Modell vor. Netzbetreiber tauschen Datenverkehr mittels des Internet Protocols (IP) miteinander aus. Bei IP aber handelt es sich um ein sogenanntes stateless packet switching protocol. Inhalte werden bei IP für den Transport in kleine Pakete unterteilt. Diese Pakete können theoretisch über unterschiedliche Wege und über viele miteinander verbundene Netzwerke durch das Internet an ihr Ziel geleitet werden. Am Ziel setzt eine Anwendung sie wieder zusammen. Anders als etwa im Postsystem oder wenn Fluggesellschaften miteinander handeln, übergeben Netzbetreiber einander demnach also keine Entitäten wie Postpakete oder Rechte an Sitzplätzen im Flugzeug, sondern nur zusammenhanglose Teilstücke. Das Netzwerk selbst kann folglich keine Transaktionen registrieren. Stattdessen gibt es nur eine anhaltende Verbindung zwischen zwei Netzen, also ein Verhältnis. Die Verbindung selbst und das entstehende Rollenverständnis werden zum wirtschaftlichen Verhandlungsgegenstand. Auch ohne konkretes Tauschobjekt kann es dazu kommen, dass ein Netzwerk das andere am Ende für die Zusammenschaltung bezahlt. (Das gilt selbst dann, wenn beide eine Kostenersparnis erzielen, weil sie durch die direkte Peering-Verbindung miteinander dritte Parteien vom Geschäft ausschließen.) Zur Rollenverteilung führt eine Art Bewertungspoker. Jeder Netzbetreiber versucht, dem anderen glaubhaft zu machen, dass der andere mehr von der Zusammenschaltung profitiere und daher bezahlen müsse. Ein Interviewpartner verglich dieses Nervenspiel mit einer Begegnung zweier Tiere im Dschungel bei Nacht: Beide sähen von einander nur die reflektierenden Augen. Um einen Kampf zu vermeiden, müsse ein Tier aufgeben und als Schwächeres die Situation verlassen. Die Verhandlung zwischen Netzbetreibern führt in diesem Framing also nicht zu einer Offenlegung oder dem tatsächlichen Abgleich der Kräfte. Vielmehr bleibt es bei einer symbolischen Machtkampf, der nichtsdestotrotz beiden Netzbetreibern eine Rolle im wirtschaftlichen Verhältnis zuteilt – sie werden Kunde und Anbieter, oder sie werden Peers.
- Kein Markt im Kern des Internets. Zahlreiche Netzbetreiber bejahen, dass die direkte Zusammenschaltung von Netzwerken beim Peering in einer Marktumgebung stattfinde. Etwaige Märkte definieren sie jedoch jenseits der Zusammenschaltung. Sie identifizieren sich nicht als Teilnehmer dessen, was andere Zusammenschaltungsmarkt nennen (Zarnekow, Wulf & von Bornstaedt 2013, pp.60-95). Sie sehen sich vor allem als Teilnehmer der Märkte, auf denen sie als Anbieter auftreten. Das ist etwa der Fall, wenn ein Content Delivery Network angibt, sein Produkt sei, Inhalte im Internet zu beschleunigen, wenn ein soziales Netzwerk angibt, es liefere “100 Prozent des Produktes” online aus, oder wenn einer der weltweit größten Internetanbieter zu Protokoll gibt, Peering verbessere seine eigentlichen Netzwerk-Produkte. In all diesen Fällen sehen Netzbetreiber den Wert der Peering-Verbindungen darin, dass sie Geschäfte in ihren Endkundenmärkten befördern (“it’s an enabler”). Sie verstehen die direkte Zusammenschaltung mit anderen Netzen als Voraussetzung für ihre eigene Wertschöpfung, doch einen Markt dafür erkennen sie nicht an. Teilweise proklamieren diese Netzbetreiber auch öffentlich, dass insbesondere Internetzugangsanbieter ihre Kosten nicht von anderen Netzbetreibern, sondern von den Endkunden decken lassen sollten.
Was lässt sich anhand dieser Vielfalt von Antworten darüber sagen, wie Netzbetreiber miteinander wirtschaften? Zunächst fällt auf, dass sich die Kategorien deutlich unterscheiden. Die Angebote in diesem Markt erscheinen damit schwammig oder sogar umstritten. Die Vielfalt von Auffassungen über das Handelsobjekt unter den Netzbetreibern spricht zunächst eher für Unsicherheit im Markt als für Stabilität.
Mit dem Marktprinzip vereinbar sind die ersten drei Kategorien: “Netzwerk-Kapazität”, “Routen” und die “physikalische Verbindung”. Sie haben gemein, dass sie auf vergleichsweise starke Formalisierungen aufsetzen. Diese erlaubt Netzbetreibern, Angebote zu vergleichen. Bits pro Sekunde, Routen oder die Kosten für Hardware lassen sich näherungsweise messen und bieten Ansatzpunkte für eine Bewertung. Allerdings sind diese Kategorien unter Netzbetreibern nicht global standardisiert. Selbst das vielleicht am meisten standardisierte Produkt “IP Transit” kann unterschiedliche Eigenschaften haben. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass sich bisher keine Vergleichsplattformen wie ein Amazon.com oder billiger.de für Konnektivitätsdienste entwickelt haben. Wo welcher Netzbetreiber Transit anbietet oder gar für welchen Preis, erfahren Netzbetreiber bis heute vor allem durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Mehr Einigkeit über das Was des Marktes würde offensichtlich die Transparenz erhöhen, Bewertung erleichtern und damit den Wettbewerb unter Netzbetreibern verstärken. Das aber gefällt nicht allen, wie die Kontroverse um die Initiative eines Netzwerkingenieurs zeigt, der die Angebote von Internet Exchange Points öffentlich miteinander vergleicht – Thema für einen weiteren Beitrag.
Die letzten drei Kategorien (“Tausch externer Ressourcen”, “verbindungsorientiertes Verhältnis” und “kein Markt”) ziehen das Konzept eines Zusammenschaltungsmarktes an sich in Zweifel. Die Ausgangsfrage nach dem Was des angenommenen Marktes im Kern des Internets bringt weitere Formen wirtschaftlicher Koordination zum Vorschein, nämlich den Tauschhandel und die (soziale) Netzwerk-Koordination. Diese beiden Formen der Koordination funktionieren ohne Wettbewerb. Beim Tauschhandel-Konzept ist unklar, wie verbreitet es ist und unter welchen Umständen sich Netzbetreiber dafür entscheiden. Netzwerk-Koordination hingegen lässt sich häufig beobachten. Sie basiert auf Reziprozität. Die Netzbetreiber beziehen sich wechselseitig aufeinander und kooperieren. Das müssen sie auch, damit die Zusammenschaltung technisch gelingt. Wie das Dschungel-Beispiel zeigt, schließt Kooperation hierarchische Konstellationen und Machtkämpfe nicht aus (vgl. dazu auch Mützel 2008:191f.). Die letzte Kategorie, nämlich dass ein Markt im Kern des Internets nicht zu akzeptieren ist, hat durchaus politischen Charakter. Wer sich als Marktteilnehmer nur jenseits der Zusammenschaltung identifiziert, spricht denjenigen Legitimität ab, die mit ihm einen Markt um Peering-Arrangements herum errichten wollen. Sogenannte peering wars sind daher Auseinandersetzung darüber, ob die wirtschaftlichen Verhältnisse zwischen Netzbetreibern auf Reziprozität oder auf dem Marktprinzip basieren sollten.
Auch gut 20 Jahre nach der Kommerzialisierung des Internets leidet das Marktprinzip im Kern des Internets unter einem Schönheitsfehler: Die Internet-Architektur lässt die Tauschobjekte konstruierter aussehen als in anderen Märkten. Nichtsdestotrotz wirtschaften Netzbetreiber offensichtlich miteinander. Fragt man aber, woher die Stabilität im Kern des Internets rührt, dann muss man weiter suchen als bis zum Markt und seinem Objekt. Denn auf einen Titel für den Film konnten sich die Beteiligten noch nicht einigen.
Foto: Bearbeitet, Original von User sic-purity / deviantart, CC BY-SA 3.0
Dieser Beitrag ist Teil der regelmäßig erscheinenden Blogartikel der Doktoranden des Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft. Er spiegelt weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wieder. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de.
Quellen:
- Aspers, P. (2011). Markets. Cambridge ; Malden, MA: Polity.
- Franz, M. (2015). reden schreiben wirken: und ganz nebenbei ein besserer Mensch werden. Correctiv.
- Mathew, A. J. (2014). Where in the World is the Internet? Locating Political Power in Internet Infrastructure. Doctoral dissertation. Retrieved from http://www.ischool.berkeley.edu/files/ashwin-dissertation.pdf
- Mützel, S. (2008). Netzwerkperspektiven in der Wirtschaftssoziologie. In A. Maurer (Ed.), Handbuch der Wirtschaftssoziologie (pp. 185-206). Springer.
- Zarnekow, R., Wulf, J., & von Bornstaedt, F. (2013). Internetwirtschaft – Das Geschäft des Datentransports im Internet. Berlin, Heidelberg: Springer Gabler. doi:10.1007/978-3-642-36687-1, pp.60-95
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