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ein Haufen zusammengeknüllter Zeitungen, die Desinformation im Netz repräsentieren
06 März 2024| doi: 10.5281/zenodo.13221736

Desinformation: Überschätzen wir uns wirklich selbst?

In der öffentlichen Berichterstattung wird häufig und eindringlich vor Desinformation gewarnt. Zudem deuten mehrere Befragungen auf eine große Sorge innerhalb der Bevölkerung hin. Andererseits  legen zahlreiche wissenschaftliche Studien nahe, dass die Reichweite von Desinformation online nur sehr gering ist und einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung betrifft. Liefert der öffentliche Diskurs also kein ausgewogenes Bild von Desinformation? Welche Folgen und unerwünschte Effekte das haben kann, diskutiert dieser Blogartikel. 

Desinformation als Risiko und Grund zur Verunsicherung

Das World Economic Forum (WEF) hat Desinformation zum weltweit größten kurzfristigen Risiko erklärt. Damit ist gemeint, dass Desinformation in den nächsten zwei Jahren Auswirkungen auf einen erheblichen Anteil des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP), der Bevölkerung oder der natürlichen Ressourcen haben wird. 

Das deckt sich mit der Studie “Verunsicherte Öffentlichkeit”, die kürzlich bei der Bertelsmann Stiftung erschienen ist und laut der 70% der Befragten sich sorgen, dass andere von Desinformation getäuscht werden. Das Ergebnis überrascht nicht und passt zu Erhebungen vor der letzten Bundestagswahl (91%), nach der letzten Bundestagswahl (92%) und aus dem letzten Jahr (94%). 

Überschätzen wir unsere eigenen Fähigkeiten?

Ein weiteres Ergebnis, das sich auch in all diesen Studien findet, ist, dass weitaus weniger Leute Desinformation für ein Risiko für sich selbst sehen. Nur 38% – 44% der Befragten in diesen Studien meinten, dass sie Sorge haben, selbst von Desinformation getäuscht zu werden. Bei der Bertelsmann Studie waren es sogar nur 16%. Mit anderen Worten: Sehr viele haben Angst, dass andere getäuscht werden, aber weitaus weniger sorgen sich, selbst von Desinformation getäuscht zu werden. 

Ein offensichtlicher Schluss, der an mancher Stelle gezogen wurde, ist, dass es der Mehrheit der Befragten an Reflektion fehlt und sie sich selbst überschätzen. Das ist allerdings nur eine mögliche Interpretation und aktuelle empirische Studien zur Reichweite von Desinformation legen durchaus Alternativen nahe.

Aussagekraft und Limitierungen aktueller Studien

Eines vorweg: Empirische Studien müssen zahlreiche Vorannahmen treffen, um die Reichweite von Desinformation messbar zu machen. So fokussieren sie sich vorrangig auf alternative Medien und Social Media. Aktuell haben wir noch keine ausreichenden Erkenntnisse dazu, in welchem Ausmaß Desinformation online den Weg in etablierte Medien findet (Tsfati et al. 2020) und auch die Rolle einzelner Politiker*innen muss hinterfragt werden. Außerdem fokussieren sich diese Studien auf Webseiten, die wiederholt Falschinformation verbreiten. Allerdings verbreiten selbst diese Webseiten nicht ausschließlich Falschinformation, weswegen sich die Frage stellt, ob man die Resultate bis auf die letzte Kommastelle genau nehmen darf. Dennoch weisen zahlreiche Studien in dieselbe Richtung: Die Reichweite von Desinformation online bewegt sich im einstelligen Prozentbereich.

Desinformation online hat nur eine sehr eingeschränkte Reichweite

Blickt man auf die Besucher*innenzahlen auf deutschen Nachrichtenseiten in den Jahren 2017 bis 2021, zeigen diese interessante Informationen. Zum Beispiel macht der Anteil von Besuchen auf Webseiten, die wiederholt Falschinformation verbreiten, nur 0.96% aus (Altay et al. 2022). Ähnliches gilt für Großbritannien und die USA, für Frankreich ist der Wert mit 3.3% auch gering. Auch die Interaktion auf Facebook ist in diesem Zusammenhang in Deutschland relativ niedrig. Von der Gesamtmenge an Likes, Emojis, Shares und Kommentaren auf den Facebook Accounts deutscher Nachrichtenseiten, erhielten jene, die wiederholt Falschinformation verbreiten, nur 8.52%.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch weitere Studien. So zeigen Fletcher et al. 2020, dass nicht-vertrauenswürdige Webseiten in Italien und Frankreich 2017 um ein Vielfaches weniger besucht wurden als die Seiten etablierter Medien. Grinberg et al. 2019 dokumentieren, dass während des US-Wahlkampfes 2016 80% der auf Twitter verbreiteten Quellen für Falschnachrichten nur von 1% der User*innen konsumiert wurden. Eine kleine Anzahl an User*innen hatte einen extremen Konsum und für die große Mehrheit machten Quellen für Falschnachrichten im Durchschnitt nur einen kleinen Anteil (1.18%) der politischen Inhalte ihres Twitter-Feeds aus. Guess et al. 2019 kommen auf ein ähnliches Ergebnis für das Teilen von Posts auf Facebook: Mehr als 90% der User*innen haben während des Wahlkampfes überhaupt keine Posts von Seiten, die wiederholt Falschnachrichten verbreiten, geteilt.

Und auch in der Bertelsmann Studie heißt es zwar, dass 35% der Befragten sehr oder eher häufig Desinformation im Netz begegnet sind, aber das heißt auch, dass 65% (sehr) selten oder nie betroffen waren. Das stimmt mit den anderen Erhebungen überein, die angeben, dass 76%-81% der Befragten nur ab und zu bis nie mit Desinformation im Internet in Berührung gekommen sind.

Realistisch statt unreflektiert?

Zeit für ein kleines Gedankenspiel: Wie besorgt bist du, von Desinformation getäuscht zu werden? 

Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass du noch nie oder nur selten mit Desinformation in Berührung gekommen bist. Also antwortest du, dass du nicht besorgt bist. Nun hörst du aber ständig, dass Desinformation ein großes Problem ist, dass es die nächsten Wahlen gefährdet oder dass es zum größten kurzfristigen Risiko weltweit ausgerufen wird. Also sorgst du dich, dass andere von Desinformation getäuscht werden. Irgendwoher muss dieser Fatalismus bezüglich Desinformation ja kommen.

Wenn man die begrenzte Reichweite von Desinformation in den Blick nimmt, dann lassen sich die oben genannten Umfragen auch anders interpretieren. Vielleicht sind die Bürger*innen nicht zu selbstbewusst oder unreflektiert bezüglich Desinformation? Vielleicht haben sie einfach eine realistische Einschätzung der Inhalte, denen sie online begegnen? In diesem Fall sollten wir uns dann weniger fragen, ob wir genügend vor Desinformation warnen, sondern ob der öffentliche Diskurs kein ausgewogenes Bild von Desinformation liefert. Natürlich sollten die Risiken von Desinformation mediale Aufmerksamkeit bekommen. Aber welche Folgen hat es, wenn dies undifferenziert geschieht und ohne die begrenzte Reichweite und Effekt zu thematisieren?

Sorge vor Desinformation? Ja, aber bitte ausgewogen und nicht wahllos!

Verschiedene Studien legen nahe, dass undifferenzierte Warnungen vor digitaler Desinformation das Vertrauen in Medien schwächen (Van Duyn und Collier 2019) und Zweifel an der Glaubwürdigkeit korrekter Information schüren können (Hameleers 2023). Auch können sie die Unterstützung für eine restriktivere Regulierung der Meinungsäußerung im digitalen Raum verstärken (Jungherr und Rauchfleisch 2024) und die Zufriedenheit mit der derzeitigen Funktionsweise der Demokratie senken (Nisbet et al. 2021). Kurzum, ungezieltes Warnen vor der Bedrohung durch Desinformation kann genau den gegenteiligen Effekt haben und zu Verunsicherung und Misstrauen führen.

Um das klar zu sagen: Desinformation ist ein reales Problem. Gerade bei Kopf-an-Kopf Rennen, wie vermutlich in den USA dieses Jahr, könnte auch Desinformation mit kleiner Reichweite große Folgen für das Wahlergebnis haben. Auch ist die beschränkte Reichweite von Desinformation online kein Freifahrtschein für die sozialen Medien, ihren Laden nicht sauber zu halten. Darüber hinaus sollte man das Problem holistischer betrachten: Desinformation ist, wie auch Hate Speech, ein Mittel den öffentlichen Diskurs zu verschieben und demokratiefeindlichen Aussagen Legitimität zu verleihen.

Dennoch muss Desinformation im Verhältnis gesehen werden und darf nicht Gegenstand von Hypes sein. Denn das unterwandert am Ende nur das Vertrauen in Medien und in verlässliche Informationen online. Was es braucht, ist eine ausgewogene Berichterstattung über Desinformation, die nicht nur die Problematik betont, sondern auch das Vertrauen in verlässliche Information stärkt.

Referenzen

Altay, S., Nielsen, R. K., & Fletcher, R. (2022). Quantifying the “infodemic”: People turned to trustworthy news outlets during the 2020 coronavirus pandemic. Journal of Quantitative Description: Digital Media, 2. https://doi.org/10.51685/jqd.2022.020

Fletcher, R., Cornia, A., Graves, L., & Nielsen, R. K. (2018). Measuring the reach of “fake news” and online disinformation in Europe. Factsheets Reuters Institute.

Grinberg, N., Joseph, K., Friedland, L., Swire-Thompson, B., & Lazer, D. (2019). Fake news on Twitter during the 2016 U.S. presidential election. Science, 363(6425), 374–378. https://doi.org/10.1126/science.aau2706

Guess, A., Nagler, J., & Tucker, J. (2019). Less than you think: Prevalence and predictors of fake news dissemination on Facebook. Science Advances, 5(1). https://doi.org/10.1126/sciadv.aau4586

Hameleers, M. (2023). The (Un)Intended Consequences of Emphasizing the Threats of Mis- and Disinformation. Media and Communication, 11(2), 5–14. https://doi.org/10.17645/mac.v11i2.6301

Jungherr, A., & Rauchfleisch, A. (2024). Negative Downstream Effects of Alarmist Disinformation Discourse: Evidence from the United States. Political Behavior. https://doi.org/10.1007/s11109-024-09911-3

Nisbet, E. C., Mortenson, C., & Li, Q. (2021). The presumed influence of election misinformation on others reduces our own satisfaction with democracy. Harvard Kennedy School Misinformation Review. https://doi.org/10.37016/mr-2020-59

Tsfati, Y., Boomgaarden, H. G., Strömbäck, J., Vliegenthart, R., Damstra, A., & Lindgren, E. (2020). Causes and consequences of mainstream media dissemination of fake news: Literature review and synthesis. Annals of the International Communication Association, 44(2), 157–173. https://doi.org/10.1080/23808985.2020.1759443Van Duyn, E., & Collier, J. (2019). Priming and Fake News: The Effects of Elite Discourse on Evaluations of News Media. Mass Communication and Society, 22(1), 29–48. https://doi.org/10.1080/15205436.2018.1511807

Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

Sami Nenno

Assoziierter Forscher: AI & Society Lab

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