Unsere vernetzte Welt verstehen
Digitale Singularisierung
Nach Andreas Reckwitz leben wir in einer Zeit grundlegenden gesellschaftlichen Wandels – wir bewegen uns hin zur Gesellschaft der Singularisierung. In diesem Prozess spielt die Digitalisierung eine fundamentale Rolle. Doch was bedeutet Singularisierung genau? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Verfasstheit unserer Gesellschaft? Marc Pirogan wirft einen Blick zurück auf Reckwitz’ Rede.
Zum Jahresabschluss der Redenreihe Making Sense of the Digital Society hielt Andreas Reckwitz am 12. Dezember einen Vortrag über die Gesellschaft der Singularisierung und ihre Verbindungen zur Digitalisierung. Reckwitz merkte zu Beginn seines Vortrags an, dass es sich bei seiner Betrachtung um eine gesellschaftstheoretische Perspektive handelt, die einen historischen Wandel ausmacht, in dem die Digitalisierung nur einer von mehreren Bedingungsfaktoren darstellt. Damit sollte in keiner Weise ein Technikdeterminismus vertreten werden. Technik bietet Angebotsstrukturen („affordances“), die zwar präformierend wirken, aber auch unterschiedliche Möglichkeiten eröffnen. Welche Praktiken sich letztendlich durchsetzen ist das Ergebnis sozialer Aneignungsprozesse.
Die historische Tendenz zur Singularisierung
Die moderne Gesellschaft, von der man in etwa ab 1800 sprechen kann, zeichnet sich nach Reckwitz durch eine Doppelstruktur aus. Einerseits fördert sie eine Logik des Allgemeinen und Standardisierbaren. Dieser zufolge werden Menschen, Orte und Dinge nach allgemeinen Standards ausgerichtet, man denke nur an das Fließband oder Rollenzuschreibungen im Beruf. Zugleich war in der Moderne schon immer eine Gegentendenz der Verheißung des Besonderen und Einzigartigen angelegt – die Singularisierung. Diese Gegentendenz zeigt sich bereits früh, mit der Romantik an. Wurde damals allerdings ein romantischer Individualitätsbegriff gepflegt, so werden heute auch Objekte, Orte, Veranstaltungen (als „Events“) und Gemeinschaften als besonders, „singulär“ präsentiert.
Mit dem Übergang von der industriellen Moderne zur Spätmoderne hat die Singularisierungstendenz in den vergangen 30 bis 40 Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Sie ist von einem Nischen- und Elitenphänomen zu einem Massenphänomen geworden. Die Logik des Allgemeinen wirkt zwar noch im Hintergrund weiter, beispielsweise als technische Infrastruktur, hat aber an Relevanz verloren. Beispiele für den Singularisierungstrend lassen sich in unseren Lebens- und Ernährungsweisen, dem Konsum allgemein, oder auch Reisen an „besondere“ Orte festmachen.
Als Ursache für den Singularisierungsprozess machte Reckwitz das Zusammenspiel dreier miteinander verschränkter Faktoren fest. Erstens hat ein kultureller Wertewandel stattgefunden, der Selbstverwirklichung und Authentizität in den Vordergrund gerückt hat. Zweitens ist der industrielle Kapitalismus mit seinen standardisierten Produkten an ökonomische Sättigungsgrenzen geraten. Singularisierung wirkt hier als das Schaffen von neuen Absatzmärkten. Und drittens war auch der technologische Faktor, die digitale Revolution, entscheidend.
Die Digitalisierung als Motor der Singularisierung
Während die vorangegangenen Technologien eher vereinheitlichend wirkten, fördert digitale Technik nun die Orientierung am Besonderen. Dies geschieht einerseits auf einer kulturellen und andererseits auf einer maschinellen Ebene. Kulturell stellen sich die Individuen in der Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Medien selbst dar. Maschinell werden sie durch Data Tracking und Algorithmen erfasst. Während der kulturelle Prozess für alle sichtbar geschieht, vollzieht sich der maschinelle hinter unserem Rücken. Entscheidend ist in beiden Fällen die Form des Profils. Auf diesem wird Besonderheit und Einzigartigkeit dargestellt sowie Differenz markiert. Individuen stellen in ständiger Aktualisierung ihr subjektives Erleben visuell dar. Auf den datenbasierten Beobachtungsprofilen wird die Besonderheit des Einzelnen ebenfalls abgebildet.
Doch nicht nur Individuen, sondern auch Objekte werden im Digitalen singularisiert. Das Netz wird zunehmend personalisiert, so wie die Google-Suche oder der Facebook-Feed. Digitale Tools ermöglichen es Nutzern zudem Objekte wie Bilder oder Texte ins Netz zu stellen. Schließlich werden auch Kollektive zunehmend singuläre. Es entstehen Kommunikationscommunities um spezifische Themen herum, von besonderen Hobbies bis hin zu politischen Gemeinschaften, die in sich relativ stark abgeschlossen sind und gemeinhin als „Filterblasen“ bezeichnet werden. Diese digitalen Neo-Gemeinschaften sind ebenfalls singuläre Einheiten, die sich als einzigartige Communities verstehen und kollektive Identität stiften.
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Als Konsequenzen der digitalen Singularisierung stellte Reckwitz verschiedene Entwicklungen fest. Die Individuen geraten im Sichtbarkeits- und Aufmerksamkeitswettbewerb zunehmend unter einen Profilierungszwang. Wer sich nicht gekonnt inszeniert, hat Nachteile zu befürchten. Weiter ist die Erosion einer allgemeinen Öffentlichkeit zu beobachten. Diese zerfällt zunehmend in abgetrennte Kommunikationscommunities und auch die personalisierte Nachrichtenzusammenstellung entzieht einer allgemeinen Öffentlichkeit die Grundlage.
Die Kultur des Netzes zeichnet sich zudem durch eine starke Gegenwarts- und Novitätsorientierung aus. Der Aufmerksamkeitsfokus und die Fähigkeit komplexe Zusammenhänge zu betrachten nimmt ab. Schließlich ist im digitalen Raum eine Affektkultur der Extreme zu beobachten. Singularisierung ist per se mit Emotionen und Affekten verbunden, da sie durch ihre Besonderheit potentiell fasziniert. Das Allgemeine zeichnet sich hingegen eher durch Sachlichkeit aus. Doch nicht nur positive Affekte und Emotionen werden hervorgerufen, auch Abschreckendes und Abstoßendes bekommt viel Aufmerksamkeit.
Wir alle sind Publikum und ProduzentInnen zugleich
In der anschließenden Diskussion gesellten sich stellvertretend für die Veranstalter Jeanette Hofmann, Direktorin des HIIG, sowie Thomas Krüger, Präsident der bpb, zum Moderator Tobi Müller und Andreas Reckwitz auf das Podium. Zunächst wurde Reckwitz darum gebeten, das Verhältnis von der Romantik zur Singularisierung als seinem Ursprung zu präzisieren und das generelle Verhältnis der Entwicklung des Kunstfeldes zu diesem Phänomen zu bestimmen.
In der Romantik wurde die Gesellschaft nach Reckwitz für die Einzigartigkeit von Menschen, der Natur oder Kunstwerken sensibilisiert. Mit dem Beginn der Moderne begann sich zugleich das Kunstfeld auszudifferenzieren. Statt dem Befolgen von Regeln und der Perfektionierung von Vorgaben geht es im modernen Kunstfeld um Originalität, das Brechen von Regeln. Während die Romantiker per se auf Einzigartigkeit bestanden, kam im Kunstfeld ein Publikum hinzu, das diese erst bewertet. Dies bedeutet, dass erst die gesellschaftliche Bewertung der relevante Faktor für das Vorhandensein von Singularität ist, genau wie im Zeitalter der Digitalisierung. Im Kunstfeld stehen jedoch nur wenige Produzenten einem großen Publikum gegenüber. Die Digitalisierung löst diese Grenze nun auf, Produzenten und Publikum sind wechselseitig austauschbar.
Auf die Frage von Jeanette Hofmann, ob es sich bei der Singularisierungstendenz um ein Elitenphänomen handelt, man denke beispielsweise an Mode, entgegnete Reckwitz, dass dies keineswegs der Fall sei. Das Internet und die sozialen Medien sind ein Massenphänomen. Das Unterstreichen von Singularität sieht man nicht nur bei klassischen Stars der alten Medien, sondern auch bei Youtubern, und dies selbst wenn sie noch unbekannt sind.
Wie können wir der Singularisierungstendenz entgegenwirken?
Thomas Krüger griff den Punkt der zunehmend Affektivität auf, die er selbst in seiner politischen Arbeit erlebt. Es zeigt sich eine Spaltung zwischen Befürwortern einer liberalen, offenen Gesellschaft und einem Reflex hin zu geschlossenen, teilweise sogar homogenen Gemeinschaften. Diese Entwicklung lässt sich nicht in ein klassisches Links-Rechts-Schema einfügen, denn auch linke Ideen, wie Genossenschaften oder „Commons“ können dem schließenden Reflex zugeordnet werden. Gefährlich sei aber die Tendenz in der Debatte das Thema der Ökonomie in den Hintergrund treten zu lassen und sie zu kulturalisieren. Diese Kritik lässt sich auch an Reckwitz Darstellung der Singularisierung anbringen. Reckwitz stimmte zu, dass sich die öffentliche Diskussion nicht auf einen Kulturwandel versteifen darf. Die Ökonomie muss immer mitbedacht werden. Der gesellschaftliche Wandel lässt sich nicht ohne ein Verständnis kapitalistischer Sättigungsgrenzen am Ende der industriellen Moderne verstehen.
Abschließend wurden die Podiumsgäste von Tobi Müller gebeten, den politischen und zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraum zu erörtern, um negative Singularisierungseffekte zu minimieren. Reckwitz enthielt sich, da er sich seiner Ansicht nach als Sozialwissenschaftler mit Prognosen lieber zurückhalten sollte, denn diese würde normalerweise daneben liegen. Thomas Krüger betonte, dass Institutionen selbst ihre Praktiken auf den Prüfstand stellen sollten. In der staatlichen politischen Bildung kann zum Beispiel nicht mehr nur von rational hervorgebrachten Argumenten ausgegangen werden. Die Faktoren Affektivität und Emotionalität müssten stärker mit einbezogen werden. Jeanette Hofmann stellte das Problem der Intransparenz von Algorithmen heraus. Durch zivilgesellschaftlichen und politischen Druck kann und sollte mehr Rechenschaftspflicht von sozialen Netzwerken eingefordert werden.
Andreas Reckwitz ist Professor für Vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina. Seine Arbeiten sind großangelegte soziologische Studien zu gesellschaftlichen Tendenzen wie Subjektivierung, Ästhetisierung oder Singularisierung. Zuletzt herausgegebene Bücher sind „Die Erfindung der Kreativität“ (Suhrkamp 2012) sowie „Ästhetik und Gesellschaft“ (Suhrkamp 2015). Ende 2017 erschien das Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ (Suhrkamp), das auch die Digitalisierung als Strukturmerkmal gesellschaftlicher Entwicklungen in den Blick nimmt. Im Frühjahr 2019 erscheint sein neuestes Buch „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ (edition suhrkamp).
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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