Unsere vernetzte Welt verstehen
Europa hat gewählt…
Europa hat gewählt – zumindest eine Minderheit von knapp 43 Prozent der rund 400 Millionen Wahlberechtigten. Rechnet man die Stimmen möglicher Protestwähler heraus, sinkt die effektive Wahlbeteiligung noch einmal deutlich. So einfach ist die Rechnung jedoch nicht, sind es doch gerade diese Parteien, die noch in der Wahlnacht zur Diagnose eines Anti-Europa-Habitus bzw. eines Rechtsrucks in Europa beitrugen. Tatsächlich zeigen die Wahlergebnisse in Frankreich und Großbritannien, in denen der rechtsextreme Front National sowie die europakritische Ukip als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgingen, ein Paradoxon im Bezug auf europäische Politik. Parteien, die sich für weniger oder gar kein Europa aussprechen, artikulieren ihre Ziele zukünftig im demokratischen Desiderat europäischer Integration. Trotz zu verzeichnender Wahlerfolge wird deren Rolle auf europäischer Ebene aber eher gering bleiben – sei es aufgrund mangelnder Fraktionszugehörigkeit oder aufgrund der insgesamt doch überschaubaren Parlamentssitze. Die jeweiligen nationalen Auswirkungen werden hingegen stärker zu spüren sein, wie sich bereits jetzt am zunehmenden Druck auf Tories in UK sowie Sozialisten und Konservative in Frankreich abzeichnet.
Auf den Kommissar kommt es an
Doch was bedeutet die Europawahl für das digitale Europa? Lässt sich aus dem Wahlergebnis bereits eine Tendenz für die zukünftigen Politiken in der Netzpolitik ablesen? Der Stellenwert, den die europäische Netz- und IKT-Politik in der kommenden Legislaturperiode einnehmen wird, wird maßgeblich von der Zusammensetzung der Europäischen Kommission abhängen. Nachdem Neelie Kroes als Kommissarin für die Digitale Agenda wohl nicht mehr zur Verfügung stehen wird, wird hier ein Posten frei, dessen Besetzung nach zwei Parametern bewertet werden wird: nach der Nationalität und der Persönlichkeit des zukünftigen Kommissars. So wäre eine Personalie aus einem digitalen Vorreiterstaat, die durchaus Kompetenzen im Feld aufweist, ein echtes Bekenntnis zum Digitalen Binnenmarkt und der Digitalen Agenda für Europa. Anbieten würde sich hier ein Kandidat aus Schweden, dem Land mit seiner eigenen ambitionierten Digitalen Agenda und der europaweit höchsten Breitbandversorgung, oder Estland, das einen umfassenden eGovernment-Ansatz forciert. Die Skandinavier werden dabei jedoch nicht auf ihre bisherige Innenkommissarin verzichten wollen, wobei die Digitale Agenda durchaus umfänglich und prestigeträchtig daherkommt. Ein weiterer aussichtsreicher Kandidat könnte aus den Niederlanden kommen, die dieses Kommissariat mit Neelie Kroes bereits zuvor besetzten. Alle drei Länder würden weiterhin potenziell einen Kommissar aus einer liberalen Partei nach Europa schicken.
Darüber hinaus wird der Zuschnitt des Generaldirektorates DG Connect eine Rolle spielen, wobei davon auszugehen ist, dass eher Themenfelder hinzukommen als abwandern. Auch wird – zumindest gegen Ende der kommenden Legislaturperiode – die Anknüpfung an die Digitale Agenda für Europa anstehen, deren Ziele für 2020 formuliert sind. Bisher war es so, dass sich DG Connect sowie sein Vorgänger DG InfSo als Querschnittressort etablierte, das weit in die Bereiche Verkehr, Umwelt , Klimaschutz, Energie, etc. hinein agierte. Dieser Querschnittcharakter wird aufgrund der attestierten IKT-Potenziale in Zukunft eher ausgeweitet als zurückgefahren. Von daher wird auch die Vision des zukünftigen Kommissars und dessen Umgang mit Themen wie Netzneutralität, Zugangsinfrastruktur und IKT-Innovationen die Zukunft Europas als digitaler Vorreiter und vernetzter Kontinent prägen.
Kontinuität trotz Wandel – Datenschutz, VDS und Netzneutralität nicht vom Tisch
Aber auch das Parlament wird seine Rolle auf der netzpolitischen Trennlinie Freiheit vs. Sicherheit einnehmen müssen. Hierbei stellt sich auch die Frage, welche Rolle das EP im Verhältnis zur Kommission zukünftig einnehmen wird. Sollte sich der Europäische Rat bei seinem Vorschlagsrecht auf einen dritten Kandidaten verständigen, dürfte das Europäische Parlament bereits bei der Wahl des Kommissionspräsidenten in die tradierte Rolle des Antagonisten zu Kommission und Rat zurückfallen. Wie sich dieses Verhältnis bei einem vom Parlament präferierten Kandidaten Juncker ausprägen wird, bleibt abzuwarten. Auf inhaltlicher Ebene bleiben die bereits bekannten netzpolitischen Themen akut. Datenschutz, Vorratsdatenspeicherung, Netzneutralität und Urheberrecht sind noch nicht vom Tisch und werden auch die kommende Legislaturperiode prägen. Allerdings dürfte sich bei den bereits etablierten Parteienfamilien allein durch die Europawahl kein gravierender Positionswandel ergeben. Selbst die nach der Wahl ausdifferenzierteren und erstarkten Euro-Skeptiker und Rechten werden in dieser Hinsicht keinen signifikanten Unterschied machen. Und auch die (europäischen) Piraten haben die Potenziale, die die NSA-Affäre im Kontext der Europawahl bot, nicht einmal ansatzweise ausschöpfen können, sodass deren spezifisch netzpolitische Perspektive marginal bleibt. Da nun zunächst keine klaren Lager erkennbar sind, werden wohl auch weiterhin themenorientierte Bündnisse neben der informellen Großen Koalition aus EVP und S&D entscheidend wirken.
Nichtsdestotrotz fungierte das Europäische Parlament bereits in der Vergangenheit als Advokat im Sinne der Bürger (vgl. die Ablehnung des ACTA-Abkommens). Die weiteren Entwicklungen werden insofern davon abhängen, welches Verhältnis sich nach dieser Wahl zwischen Kommission und Parlament entwickelt, welche Visionen der zu benennende Kommissar für ein digitales Europa mitbringt und welchen Rückhalt die Inhalte eines womöglich fortbestehenden DG Connect bei den Parlamentariern genießt. All das wird sich jedoch erst nach der Konsolidierung des Europäischen Parlaments und den Verhandlungen um das Amt des Kommissionspräsidenten sowie die Zusammensetzung der Kommission zeigen.
Europa hat also gewählt; das Ergebnis hingegen zieht zunächst einmal nationale Konsequenzen nach sich.
Dies ist ein Beitrag von Simon Rinas, assoziierter Doktorand des Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft. Er spiegelt weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wieder. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de.
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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