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Digitale Demokratie braucht die Partizipation von den Nutzer*innen
31 Oktober 2022| doi: 10.5281/zenodo.7273446

Wie soll die digitale Demokratie aussehen?

Deutschlands wichtigster Philosoph für Demokratie und demokratische Diskurse ist unglücklich. In seinem neuesten Buch argumentiert Jürgen Habermas, dass “Halböffentlichkeiten” an die Stelle öffentlicher Räume treten und dass der demokratische Diskurs durch hitzige Online-Debatten herausgefordert wird. Aber der Charakter der Debatten selbst ist nicht das zentrale Problem. Die größere Herausforderung besteht darin, dafür zu sorgen, dass die privaten Regeln und Praktiken der Plattformen, die die Online-Debatten gestalten, mit den öffentlichen Werten in Einklang gebracht werden. Eine Reihe von Plattformen und Nichtregierungsorganisationen haben damit begonnen, deliberative Ansätze für Plattformregeln zu entwickeln. Die Gestaltung der digitalen Demokratie ist jedoch eine Herausforderung.

Jürgen Habermas ist unglücklich. Als vor 60 Jahren sein Strukturwandel der Öffentlichkeit erschien, sah er die individuelle Kommunikation und die partizipative Kultur durch Massenmedien, Film, Radio und Fernsehen in Gefahr. Passive Zuhörer*innen und Zuschauer*innen würden sich nicht mehr demokratisch beteiligen, sondern nur noch konsumieren. Spulen wir ins Jahr 2020 vor: Er ist wieder unglücklich, wie er in seinem Buch Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik eindringlich erklärt, aber jetzt sind die Schuldigen nicht mehr die passiven Zuhörer*innen und die übermächtigen Massenmedien, sondern zu viele (und zu aktive) Sprecher*innen im Internet sowie die Plattformen, die es ihnen ermöglichen, Katzenmemes, Hate Speech und Desinformationen zu Corona zu posten.

In 60 Jahren hat sich viel verändert. Die Plattformen selbst sind zu Regelmachern, Regeldurchsetzern und Richtern ihrer eigenen Entscheidungen geworden. Sie haben Kommunikationsräume geschaffen, in denen der Diskurs, der notwendigerweise demokratische Werte berührt, den Anforderungen der Aufmerksamkeitsökonomie unterworfen wird. Ist es Zeit für einen Neustart? Sollten wir mehr gesellschaftliche Gruppen in die Entwicklung von Regeln dafür einbeziehen, was online gesagt werden darf? Die deutschen Akademien der Wissenschaften sind auf jeden Fall dieser Meinung. Sie forderten kürzlich die Beteiligung von “Vertretern staatlicher und zivilgesellschaftlicher Stellen sowie (…) von Nutzern (…) an Entscheidungen über Grundsätze und Verfahren der Inhaltskuration”.

Demokratischer Neustart

Es ist daher nicht sehr überraschend, wenn sich die Regierungsparteien im derzeitigen Koalitionsvertrag dazu verpflichten, “die Einrichtung von Plattformräten” (d.h. Institutionen, die die Regeln und Praktiken der Plattformen überwachen) voranzutreiben. Aber wie sollen diese Räte aufgebaut sein? Als Mini-Parlamente, oberste Gerichte, Räte der Weisen? Ein halbes Jahr später hatte sich auf Seite der Politik noch nicht so viel bewegt. In Beantwortung einer kleinen Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Juni antwortete die Bunderesgierung, dass sie sich  “aktiv in die Entwicklung von Konzepten zum Aufbau von Plattformräten ein[bringe]” und dass Plattformräte “eine sinnvolle Ergänzung zum Rechtsrahmen darstellen” könnten. 

Bemühungen, neue Gremien zu einer verbesserten Legitimität von Regeln, Praktiken und Entscheidungen der Plattformen zu entwicklen, sind also vorhanden: Ein großes soziales Netzwerk, Meta, hat ein Aufsichtsgremium eingerichtet, das bei inhaltlichen Entscheidungen und algorithmischen Empfehlungen helfen soll. Das gleiche soziale Netzwerk experimentiert mit deliberativen Prozessen in großem Maßstab. Ein E-Game Developer experimentiert mit Spieler*innenräten, die den Programmierer*innen helfen sollen, schwierige Entscheidungen zu treffen. Der Beirat des deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens möchte ein Publikum-Panel einrichten, das mehr Einfluss auf Programmentscheidungen nimmt. Die größte Online-Wissensplattform der Welt lässt seit ihrer Gründung die Nutzer*innen über inhaltliche Konflikte entscheiden. All diese Beispiele haben ein grundlegendes Ziel: Es soll sichergestellt werden, dass Entscheidungen über Kommunikationsregeln, die für Menschen und/oder durch Algorithmen vermittelt werden, durch eine breitere Beteiligung besser und differenzierter ausfallen und als legitimer angesehen werden.

Demokratie zur Probe

Auch Wissenschaftler und Nichtregierungsorganisationen haben sich zunehmend an der Debatte beteiligt. Im Jahr 2021 war ich Mitverfasser einer einführenden Studie über Social Media Councils, in der das Konzept und seine Ursprünge in Medienräten untersucht wurden. Der Tech-Journalist Casey Newton schlägt vor, dass Plattformen ein wenig Demokratie ausprobieren sollten, um Vertrauen aufzubauen. Der einflussreiche ehemalige Sonderberichterstatter der Vereinen Nationen für Meinungsäußerungsfreiheit, David Kaye, veröffentlichte zusammen mit der NGO ARTICLE 19 und dem Stanford GDPI eine ausführliche Studie über das Potenzial von Social Media Councils. ARTICLE 19 setzte dann einen NGO-geführten Social Media Council in Irland um. In Harvard schlägt Aviv Ovadya vor, dass Bürgerversammlungen die Politikgestaltung jenseits von Konzernchefinnen und parteipolitischem Druck unterstützen können. 

Was können diese Ansätze leisten? Werden sie der Aufgabe gerecht, demokratische Diskursräume zu gewährleisten und gleichzeitig den Plattformen genügend Raum für Innovationen und interne Regeln zu lassen? Zunächst einmal ist die Sicherung der freien Meinungsäußerung eine ordnungspolitische Herausforderung, die nicht gelöst werden kann; es handelt sich um ein so genanntes wicked problem. Auch “die öffentliche Gesundheit” oder “der Klimawandel” lassen sich nicht lösen. Um die freie Meinungsäußerung und einen lebendigen politischen Diskurs zu gewährleisten (denn die institutionelle Dimension der freien Meinungsäußerung wird oft vergessen), braucht es eben nicht weniger Regulierung, sondern mehr Freiheit. Wenn Elon Musk Donald Trump und Kanye West (dessen Inhalte auf Instagram wegen antisemitischer Äußerungen reduziert oder entfernt wurden) wieder auf Twitter zulässt (wo seine Inhalte innerhalb eines Tages nach seiner Rückkehr wegen antisemitischer Äußerungen entfernt wurden), ist dies nur formal ein Gewinn an Meinungsfreiheit.

Deliberativen Demokratie in der Praxis

Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten, und keine davon ist leicht umzusetzen: Rachel Griffin von SciencesPo erinnerte uns kürzlich daran, dass Plattformen zur Verringerung von Legitimitätsdefiziten eine “Multistakeholder-Antwort wählen können, um den Einfluss der Zivilgesellschaft auf die Plattform-Governance durch Transparenz, Konsultationen und Partizipation zu erhöhen”, oder eine “rechtsstaatliche Antwort”, die “die Plattform/Staat-Analogie ausweitet, um zu argumentieren, dass die Plattform-Governance denselben rechtsstaatlichen Grundsätzen folgen sollte wie öffentliche Institutionen”. Möglich ist natürlich auch eine Mischung aus beidem, wie z. B. das Meta Oversight Board. Obwohl es von der Sonderberichterstatterin für Meinungsfreiheit in ihrem jüngsten Bericht mit Zustimmung zitiert wurde (“Viele andere Unternehmen stellen nur wenige oder gar keine Informationen über ihre Tätigkeiten zur Verfügung, geschweige denn einen öffentlichen Kanal für Einsprüche und Überprüfungen”), zeigen Wissenschaftler wie Riku Neuvonen (Universitäten Helsinki und Tampere) und Esa Sirkkunen (Universität Tampere), warum das Gremium (noch) nicht das demokratische Versprechen von Social-Media-Räten erfüllt (oder als echter “Oberster Gerichtshof” gelten kann).

Neue Kommunikationsräume

Kehren wir zu dem unglücklichen Philosophen zurück: Jürgen Habermas sieht mit Sorge eine Gesellschaft, die in “Halböffentlichkeiten” zersplittert ist und ihre gemeinsamen Bezugspunkte verliert. Die Räume, in denen sich Kommunikation abspielt, scheinen eine eigentümliche “anonyme Intimität” zu gewinnen: Nach bisherigen Maßstäben können sie weder als öffentlich noch als privat verstanden werden, sondern am ehesten als eine zur Öffentlichkeit aufgeblähte Sphäre einer Kommunikation, die bisher der privaten Korrespondenz vorbehalten war.” Wir nennen diese “hybriden Räume”, weil private Regeln, private algorithmische Empfehlungsregime die Kommunikation prägen und beeinflussen, die für öffentliche Werte und Interessen relevant sind. Und genau in diesen Räumen wird die Zukunft der digital vermittelten Demokratie verhandelt und Designs für die digitale Demokratie erprobt.

Doch wer soll helfen, neue Modelle der demokratischen Entscheidungsfindung im digitalen Zeitalter umzusetzen? Für Jürgen Habermas ist die Antwort klar: der Staat. In einem ebenfalls im Neuen Strukturwandel abgedruckten Aufsatz erinnert er abschließend an die verfassungsrechtliche Verantwortung für die Stabilisierung der Wahrheitsordnung einer Gesellschaft. Es sei nicht nur eine “politische Entscheidung”, sondern vielmehr ein “verfassungsrechtlicher Imperativ”, dass Staaten gesetzliche Maßnahmen setzten, um eine Medienordnung aufrechtzuerhalten. Diese soll sowohl den “inklusiven Charakter der Öffentlichkeit” als auch den “deliberativen Charakter der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung” gewährleisten.

Zur Rolle der Staaten

Staaten sind wichtig. In der heutigen komplexen Gesellschaft werden zumindest demokratische Staaten nicht in erster Linie als Bedrohung der Freiheit gesehen, sondern sind auch deren Garanten. In der Tat haben Staaten auf den Menschenrechten basierende Verpflichtungen, die Menschenrechte zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten. Es reicht nicht aus, Meinungen nicht zu zensieren, damit ein Staat seine Verpflichtungen erfüllt. Staaten müssen Medienordnungen aktiv gestalten, um demokratische Diskurse zu ermöglichen. Demokratien beruhen auf der kommunikativen Interaktion ihrer Bürger*innen. Dies erfordert – verfassungsrechtlich – eine institutionell abgesicherte Kommunikationsordnung. Kommunikations- und Medienfreiheiten sind also in einem System verschiedener institutioneller Garantien zu verorten. Wie die Medienrechtler Keno Potthast und Wolfgang Schulz in einem Gutachten für die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften schreiben, braucht die Demokratie im Lichte des Grundgesetzes den Staat, damit eine freie und offene, individuelle und öffentliche Meinungsbildung möglich ist.

Wie die Akademien der Wissenschaften und Künste feststellen, ist die Gestaltung der digitalen Demokratie ein Projekt für alle Beteiligten: Von der Wissenschaft über die Anbieter digitaler Infrastrukturen und Dienste (Plattformen und öffentlich-rechtliche Medien) bis hin zu den NGOs und Start-ups. Die Wissenschaft kann etwa innovative Konzepte für eine demokratiefreundliche Gestaltung von Online-Kommunikationsräumen entwickeln. Auf wissenschaftlicher Ebene ist das von der Stiftung Mercator geförderte Projekt Plattform://Demokratie vom HIIG, Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut und der Universität Innsbruck dabei, dieser Aufgabe nachzugehen.

Eine Plattform für Demokratie

Dieser Blogbeitrag, der auf die Plattform für offene Wissenschaft und zivilen Diskurs te.ma zurückgeht, ist Teil des Projekts Plattform://Demokratie. Es ist von der Stiftung Mercator gefördert, und steht unter der Leitung von Matthias C. Kettemann, in Zusammenarbeit mit Josefa Francke und Christina Dinar. Das Projekt erforscht, ob und wie Plattformräte das Potenzial haben, öffentliche Werte und private Ordnungen in Einklang zu bringen. In vier regionalen Forschungskliniken beleuchtet das Projekt, wie eine normative Infrastruktur für bessere Strukturen zur Regelsetzung, Regeldurchsetzung und Regelbeurteilung in (vor allem online) hybriden Kommunikationsräumen geschaffen werden kann. In diesen Kliniken in Europa, Afrika, Asien/Pazifik/Australien und Nord- und Südamerika tauschen die Teilnehmer*innen ihre Erfahrungen über Modelle zur Verbesserung der Qualität der deliberativen Demokratie in Online-Umgebungen aus.

Weiterführende Literatur

Interessierst du dich für die digitale Demokratie? Kennst du den gesellschaftlichen Mehrwert und die möglichen Nachteile der Digitalisierung? Regeln und die normative Ordnung des Internets verändern sich schnell. Aber Regeln spielen bei der Gestaltung sozialer Innovation weiterhin eine Rolle: Weißt du etwa, wer das Internet regiert? Und wie du zu seiner Gestaltung beitragen kannst? Um zu verstehen, wie Demokratie und Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert funktionieren, ist jedenfalls ein solides Verständnis von Sozialen Medien bei der Nutzung und Projektion von Meinungsmacht und der Bekämpfung von Desinformation hilfreich.

Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

Matthias C. Kettemann, Prof. Dr. LL.M. (Harvard)

Forschungsgruppenleiter und Assoziierter Forscher: Globaler Konstitutionalismus und das Internet

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