Unsere vernetzte Welt verstehen
KI als fliegendes blaues Gehirn? Wie Metaphern unsere Vorstellung von KI beeinflussen
Warum wird Künstliche Intelligenz so häufig als eine Maschine mit menschlichem Gehirn dargestellt? Die Narrative und Metaphern von Science Fiction, Medien und verschiedenster Akteur*innen über das, was mit dem Begriff “Künstliche Intelligenz” beschrieben wird (um schonmal eine Metapher zu verwenden), haben unsere Sicht auf KI-Systeme in der Gesellschaft beeinflusst. Metaphern sind überall um uns herum, und sie sind mächtig: Sie greifen auf unsere Erinnerungen zu, lösen Emotionen aus, beeinflussen unsere Einstellungen und prägen unsere Erwartungen an die Zukunft. Dieser Artikel zeigt, wie eine irreführende Metapher sich bis heute durchsetzen konnte.
Sprachreflexive Ansätze zum Nachdenken über unsere Zukunft mit KI
Wenn Sie “KI” in eine Suchmaschine Ihrer Wahl eingeben, werden Sie zunächst vielleicht nicht überrascht sein, dass die meisten Bilder ein menschliches Gehirn in grellen blauen Farben zeigen. Bei näherer Überlegung ist dies jedoch verblüffend: Warum sollte eine Maschine ein menschliches Gehirn haben? Warum sollte die Suche nach einem Teilbereich der Informatik Darstellungen des Zentrums unseres Nervensystems zeigen?
In zeitgenössischen Beschreibungen von KI ist die Zuschreibung menschlicher Eigenschaften ein weit verbreitetes metaphorisches Konzept. Sowohl visuelle als auch textliche Metaphern stellen KI-Systeme, trotz technologischer Grenzen, als menschenähnlich dar (European Commission 2018). Schnell kommen einem eine Vielzahl von Beispielen in den Sinn: künstliche “Intelligenz”, machine “vision”, machine “learning” oder künstliche “neuronale” Netze. Alle diese Metaphern sind Ableitungen desselben metaphorischen Konzepts. (siehe auch dieser Beitrag von C. Djeffal)
Per Definition sind Metaphern Bedeutungsübertragungen. Sie schaffen eine sprachliche Verbindung zwischen zwei getrennten semantischen Bereichen (Schmitt et al. 2018). So wird ein Phänomen durch die Eigenschaften eines anderen verstanden und erlebt (Lakoff & Johnson 2003).
Die Rolle von Metaphern ist Gegenstand umfangreicher Forschungen in verschiedenen Bereichen: von Rhetorik, Linguistik, Philosophie, Politikwissenschaft über Kognitionswissenschaft bis hin zu Zukunftsforschung. Sie zeigen, dass Metaphern mehr sind als Phrasen und Wortspiele. Zukunftsvisionen können sich durch Metaphern sprachlich manifestieren; Sprache wird so zum Medium und zur Schnittstelle zwischen gegenwärtigen Konstellationen und Zukunft (Lösch & Ferrari 2017, Grunwald 2009).
Politik ist Krieg! Finanzmärkte sind eine Naturgewalt! Daten sind das neue Öl!
Metaphern treten selten als isolierte sprachliche Wendungen auf, sondern sind Teil metaphorischer Konzepte. Das meint Aussagen von Analogien, die eine gemeinsame Bildsprache teilen (Schmitt et al. 2018). Während wir Metaphern verwenden, um der Welt um uns herum einen Sinn zu geben, helfen sie uns auch, neue Technologien und Werkzeuge zu verstehen. Eine Metapher hebt das Neue hervor, indem sie auf etwas Vertrautes verweist. So zeigt sie versteckte Ähnlichkeiten auf Kosten einiger entscheidender Merkmale auf, von denen abstrahiert wird (Stark & Hoffmann 2019).
Mythen und Metaphern der Neuschöpfung: Steckt etwas Menschliches in diesen Maschinen?
Anthropomorphe Metaphern machen nicht-menschliche Entitäten der Fürsorge und moralischen Rücksichtnahme würdig. Durch die Darstellung der KI als menschliches Gehirn wird ein Gefühl der Vertrautheit und Verwandtschaft geschaffen. Die Gehirnmetapher impliziert, dass wir etwas erschaffen, das mit uns eng verwandt ist. Sie nutzt das Gehirn als Quelle der Eigenschaften, die uns als Menschen definieren (Salles, Evers & Farisco 2020). Die Ähnlichkeit unterstützt den Gedanken der sozialen Akzeptanz und propagiert die Vorstellung, dass eine Maschine wie ein menschliches Gehirn funktioniert. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung und der Glaube, dass nicht-menschliche Systeme dem menschlichen Geist ähnlich sind und dass menschliche Intelligenz bei entsprechendem Training technisch simuliert werden kann (Crawford 2021). Interessanterweise werden bildliche Metaphern von KI, wie die vom Gehirn inspirierte KI-Metapher (Abbildung 1), häufig in blauen, grünen und violetten Farben dargestellt, die die zugeschriebene menschliche Ähnlichkeit mit Kälte und Distanz entgegenwirken (Ganesh und Gilman 2020).
Der Wunsch, ein lebendes bewusstes Wesen nachzubilden, ist ein vorherrschendes Motiv in der menschlichen Kulturgeschichte: von den Erzählungen Golems über Mary Shelleys Frankenstein bis hin zu neueren Darstellungen wie den Replikanten im Film “Blade Runner” (Hermann 2021). Anthropomorphismus hat eine lange Geschichte, und die Sehnsucht nach Schöpfung bleibt ein weit verbreitetes Narrativ (Cave et al. 2018).
Der Geist (das Gehirn) ist ein Computer ist ein Geist (ein Gehirn)
Die Beschreibung von Maschinen als menschliches Gehirn ist eine bidirektionale Metapher, bei der der Quell- und der Zielbereich der Metapher ausgetauscht werden können. In der Vergangenheit wurden neue Technologien mit dem menschlichen Gehirn verglichen. Damals war das einfachere, sinnlich bekannte Objekt der Geist. Seine Eigenschaften veranschaulichten die Funktionsweise von Telegrafen, hydraulischen Maschinen oder elektrischen Schaltkreisen (Cobb 2021). Immer, wenn eine neue Technologie eingeführt wurde, zog man neue Analogien zum menschlichen Gehirn.
Später wurde das bis dahin unbekannte Wesen der Maschine besser verstanden als das des menschlichen Gehirns (West & Travis 1991). Infolgedessen verlagerte sich der Ziel- und Quellbereich der mechanischen Metapher: Die neurowissenschaftliche Forschung nutzt heute die Funktionalitäten von Computern, um Aufbau und Funktionsweise unserer Gehirne zu verstehen und zu veranschaulichen (Cobb 2021). Ausdrücke wie “I am feeling wired” oder “Can you make a quick download of your findings” haben sich auch in der Alltagssprache eingebürgert.
Zuletzt weniger blaue Gehirne
Der Vergleich von Maschinen mit dem menschlichen Verstand besitzt ebenso wie die Metapher von der KI als menschliches Gehirn eine hohe Ausdruckskraft und einen heuristischen Wert. Dieser Umstand erklärt, warum die Verwendung dieses metaphorischen Konzepts die Phantasie der Menschen beflügelt und es sich in den letzten 70 Jahren im Diskurs festgesetzt hat. Als zielgerichtete Metapher bot sie Politiker*innen, Forscher*innen und Ingenieur*innen gleichermaßen ein nützliches Narrativ. Doch mit der zunehmenden Kluft zwischen der Abbildung menschlicher Intelligenz und dem tatsächlichen technologischen Fortschritt verliert das metaphorische Konzept an Einfluss (siehe https://betterimagesofai.org/images).
Fazit: Neue Metaphern als Chance
Wenn wir über die Zukunft nachdenken und sprechen, verwenden wir Konzepte aus der Vergangenheit, um uns unbekannte Phänomene vorzustellen und durch Metaphern zu erklären. Sie beinhalten jedoch normative Implikationen, die unser Denken prägen (Wyatt 2021, Katzenbach & Larsson 2017). Metaphern helfen uns, uns im Unbekannten zurechtzufinden, indem sie bestimmte Merkmale hervorheben. Die Verwendung einer präziseren Sprache und Bildsprache kann Aspekte soziotechnischer Systeme beleuchten, die durch Metaphern verborgen bleiben (Johnson & Verdicchio 2017). Dadurch entsteht das Potenzial, unser Verständnis von Technologie und ihren Auswirkungen zu bereichern. Andererseits kann eine Verschiebung des sprachlichen Rahmens durch neue Metaphern und Narrative uns dabei helfen, alternative Zukunftsvisionen plausibel zu machen. Begreifen wir dies als Chance.
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Quellen
Cave, S., Craig, C., Dihal, K., Dillon, S., Montgomery, J., Singer, B. and Taylor, L., (2018). Portrayals and perceptions of AI and why they matter. [online] The Royal Society. Available at: https://royalsociety.org/topics-policy/projects/ai-narratives/ [Accessed 26 March 2022].
Cobb, M., (2022). How technology has inspired neuroscientists to reimagine the brain. [online] Vox. Available at: https://www.vox.com/unexplainable/2021/11/17/22770720/brain-science-technology-neurology-matthew-cobb [Accessed 26 March 2022].
European Commission, (2018). Artificial Intelligence for Europe. COMMUNICATION FROM THE COMMISSION. [online] Brussels: European Commission, p.1. Available at: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=COM%3A2018%3A237%3AFIN [Accessed 24 March 2022].
Ganesh, M. and Gilman, N., (2020). Making Sense of the Unknown – The Rockefeller Foundation. [online] The Rockefeller Foundation. Available at: https://www.rockefellerfoundation.org/blog/making-sense-of-the-unknown/
Grunwald, A. (2009) Wovon ist die Zukunftsforschung eine Wissenschaft? in: R. Popp und E. Schüll (Hrsg.): Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung, Berlin; Heidelberg: 25-26.
Hermann, I. (2021). Artificial intelligence in fiction: between narratives and metaphors. AI & SOCIETY. https://link.springer.com/10.1007/s00146-021- 01299-6
Johnson, D. G., & Verdicchio, M. (2017). Reframing AI Discourse. Minds and Machines, 27(4), 575–590. https://doi.org/10.1007/s11023-017-9417-6
Katzenbach, C, Larsson, S (2017) Imagining the digital society – metaphors from the past and present. Available at: https://www.hiig.de/en/imagining-the-digital-society-metaphors-from-the-past-and-present/ [Accessed 26 March 2022].
Lakoff, G, Johnson, M (2003) Metaphors We Live by. Chicago, IL: The University of Chicago Press.
Salles, A., Evers, K., & Farisco, M. (2020). Anthropomorphism in AI. AJOB Neuroscience, 11(2), 88–95. https://doi.org/10.1080/21507740.2020.1740350
Schmitt, R., Schröder, J., & Pfaller, L. (2018). Systematische Metaphernanalyse. Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21460-9
Stark, L., & Hoffman. (2019). Data is the new what? Popular metaphors and professional ethics in emerging data cultures. Journal of Cultural Analytics, 1(1), 1-22.
West, D. and Travis, L., (1991). The Computational Metaphor and Artificial Intelligence: A Reflective Examination of a Theoretical Falsework. AI Magazine, 12(1), 64-78.https://doi.org/10.1609/aimag.v12i1.885
Wyatt, S. (2021). Metaphors in critical Internet and digital media studies. New Media & Society, 23(2), 406–416. https://doi.org/10.1177/1461444820929324
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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