Unsere vernetzte Welt verstehen
Leben, lieben, lernen – im Jahr 2040
Wie werden wir in 20 Jahren leben, lieben, lernen und arbeiten? Forscher*innen aus zehn Ländern warfen im Rahmen des Projekts „twentyforty“ einen Blick in die Zukunft. Die Ergebnisse sind vom 2. – 15. Juli in einer Ausstellung zu sehen.
Die Besucher*innen können eintauchen in die digitalen Utopien visionärer Forscher*innen aus verschiedenen Fachgebieten, die sich mit drängenden Fragen unserer Zukunft auseinandersetzen. Im Interview erzählen Initiator Dr. Benedikt Fecher und Projektleiterin Bronwen Deacon von ihrem Verhältnis zu Zukunft und Wissenschaft.
Was ist deine Lieblings-Science Fiction-Geschichte?
Bronwen Deacon: Eine einzelne Geschichte den anderen vorzuziehen, ist schwierig. Sie sind alle so unterschiedlich und in allen stecken wichtige Gedanken und Anregungen. Dennoch ist mir die Geschichte von Preeti Mudliar sehr ans Herz gewachsen, da sie mir bisher unbekannte Dimensionen digitalen Entwicklung aufzeigt, welche sie in ihrer eigenen Feldforschung beobachtet.
Die Geschichte spielt in Indien. Getragen wird sie durch einen Protagonisten der untersten Kaste, welcher versucht, die staatlich zur Verfügung gestellten Wasserressourcen für seine Familie zu erwerben. Die Sicherstellung von Leben liegt in den Händen von Maschinen, die den Erwerb von Wasser nur genehmigen, wenn sie einen Menschen eindeutig durch dessen Handabdruck identifiziert haben. Die Hände der Menschen sind aber durch ihre harte Arbeit so zerschunden, dasst eine solche Identifikation aber nicht mehr möglich ist. Der utopische Gedanke liegt dann im Aufstand und der daraus resultierenden Zukunftsvision einer menschlicheren Mensch-Maschine Interaktion.
Wie bist du auf die Idee für twentyforty gekommen?
Benedikt Fecher: Mir ist aufgefallen, dass wir Wissenschaftler*innen gut darin sind, die Vergangenheit und die Gegenwart zu verstehen. Mit der Zukunft, also dem was man nicht wissen kann, tun wir uns schwer. Gerade in Bezug auf die Digitalisierung existieren meines Erachtens schon genügend Horrorszenarien. Mit twentyforty wollte ich ein Format schaffen, mit dem Wissenschaftler*innen – auf Basis Ihrer Expertise – Utopien, oder bestmögliche Zukünfte, kreieren. Ich glaube es braucht dieses Denken, um den Herausforderungen von heute konstruktiv zu begegnen. In unserem Forschungsprogramm betreiben wir ja Wissenschaftskommunikationsforschung. Twentyforty ist in diesem Kontext ein spielerisches Experiment über zu epistemischen Bedingungen des Wissenschafts-Gesellschaftsbezug.
Was war an dem Projekt nicht so ganz normal?
Benedikt Fecher: Das Projekt war in vielerlei Hinsicht nicht normal. Wir haben Wissenschaftler*innen aus der ganzen Welt eingeflogen, um kreativ über die Zukunft der digitalen Gesellschaft nachzudenken. Wir sind mit ihnen in eine Kleinstadt nach Brandenburg gefahren – fernab vom hektischen Berlin.
Wir haben mit Ihnen Geschichten entwickelt, die sich gerade nicht an ein wissenschaftliches Publikum richten. Und wir haben einen wunderbaren Band herausgegeben – ohne Verlag und Open Access, so dass jede und jeder diese Geschichten lesen kann.
Für Wissenschaftler*innen ist all das nicht normal. Auch für uns, die wir das Projekt begleitet haben, war das nicht normal. Unser Brot-und-Butter-Geschäft ist nunmal Forschung. Aber es hat alles wunderbar funktioniert, weil wir engagierte Teilnehmer*innen hatten, die sich auf dieses Experiment eingelassen haben, und ein Projektteam, das stets nach kreativen Lösungen gesucht hat. Ich würde sagen, wir alle haben durch das Projekt unseren Horizont erweitert und sind noch enger zusammen gerückt.
Wie sah die Umsetzung aus? Was war die größte Herausforderung, die überwunden werden musste?
Benedikt Fecher: Wissenschaftler*innen sind es nicht gewohnt über die Zukunft nachzudenken. Sie sind es auch nicht gewohnt Geschichten zu schreiben. Das Ganze war ein Wissenschaftskommunikationsexperiment, das zum Glück funktioniert hat. Für mich war das die größte Herausforderung: Wie kann man Wissenschaftler*innen dazu bringen, ihren gewohnten Pfade zu verlassen? twentyforty hat gezeigt, dass es möglich ist.
Bronwen Deacon: Aus Projektsicht gab es verschiedenen Hürden die es zu überwinden galt und die sehr spannend zu beobachten waren. Der erste Schritt war sicherlich unser Schreibcamp. Hier wurden 13 Menschen bunt auf engstem Raum zusammengewürfelt und aufgefordert, jegliche bekannten Strukturen aufzubrechen. Im Denk-und Schreibprozess konnten wir zuschauen, wie schwierig und dann befreiend es für einige Teilnehmer*innen war, kreativ zu schreiben, Protagonisten und Dialoge zu entwerfen und neue Formate auszutesten.
Für mich persönlich hat es durchaus auch einen langen Atem erfordert über ein Jahr am Ball zu bleiben, an Deadlines zu erinnern, Korrekturschleifen zu begleiten usw. Brenzliche Situation, etwa als eine unserer Autorinnen aufgrund ihres Visums am Flughafen eine neue Buchung benötigte, gab es auch. Aber hier haben wir als Team sehr schnell und gut reagieren können. Es hat sich definitiv alles ausgezahlt.
Warum wagen Wissenschaftler*innen so selten eine Projektion in die Zukunft?
Benedikt Fecher: In der Regel befasst sich Wissenschaft mit dem was ist. Sie ist ständig damit beschäftigt die Gegenwart und Vergangenheit zu verstehen und Wissen zu hinterfragen. Sie folgt dem Popperschen Prinzip des Falsifikationismus – nichts ist jemals die finale Wahrheit. Das ist ein guter Ansatz, um eine solide Wissensbasis zu schaffen. Das ist ein schlechter Ansatz, um die Zukunft zu gestalten.
Vielleicht brauchen wir in der Wissenschaft auch einen vorwärtsgerichteten Falsifikationismus – der von einer Utopie ausgehend die bestmögliche Zukunft skizziert.
Warum brauchen wir heute Utopien? Warum in literarischer Form?
Benedikt Fecher: Wir leben in einer hektischen Zeit, in der viele Weichen für die Zukunft gestellt werden. Wenn man sich nicht darüber austauscht, wie man in Zukunft leben möchte und welchen Gefahren man begegnen könnte, ist man unvorbereitet. Wissenschaft hat hier eine zentrale Rolle als Wissensquelle. Aber es ist klar, dass eine Utopie nicht nur von Wissenschaftler*innen entworfen werden kann. Sie muss intersubjektiv geteilt sein.
Bronwen Deacon: Die Form des Geschichtenerzählens ermöglicht einen ganz anderen Zugang zum Inhalt. Uns war es wichtig, dass sowohl unsere Autor*innen neue Wege entdecken ihre Gedanken und Erkenntnisse aus ihren Forschungsbereichen mit der breiten Öffentlichkeit zu teilen, als auch umgekehrt, dass viele Menschen durch eine gemeinsame Sprache Einblicke in die sonst so verschlossene Welt der Wissenschaft bekommen.
Gibt es etwas, das du aus dem Projekt twentyforty in deine alltägliche Arbeit mitgenommen hast?
Benedikt Fecher: Vieles. Der Austausch mit den Kolleg*innen hat meinen Horizont erweitert. Ich möchte meine Ideen und Arbeiten noch stärker interdisziplinär entwickeln. Schließlich hat mir twentyforty auch gezeigt, dass wir anspruchsvolle und komplexe Projekte umsetzen können. Wir sind bereit für das nächste.
Bronwen Deacon: Vielfalt und Austausch bringt immer etwas Neues hervor und das sollte gefördert werden. Besonders unser Schreibcamp hat mich sehr inspiriert und bereichert.ch habe bemerkt, wie auch alle unsere Teilnehmer*innen erfüllt aus dieser Erfahrung gekommen sind. Das erfordert auch einen Schritt aus der eigenen comfort zone heraus, bringt aber viel.
Wenn du einen Wunsch frei hättest, welche der Utopien aus dem Sammelband möchtest du für das Jahr 2040 wahr werden lassen?
Benedikt Fecher: Ich würde gern mit Mark Graham an einem immersiven Rave teilnehmen und mit Robin Tim Weis die Badehäuser der Zukunft besuchen. Außerdem hätte ich gern an Dirk Baeckers Next University studiert. Wer wissen will, was ich meine, muss die Texte lesen.
Alle Texte sind open access in einem Sammelband veröffentlicht und auch online unter „twentyforty – Utopias for a digital Society“ zu finden. Die Ausstellung zum Projekt ist noch bis zum 15. Juli im Haus der Statistik in Berlin zu sehen.
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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