Unsere vernetzte Welt verstehen
Nachhaltige Industrie durch digitale Lieferketten?
Gastbeitrag von Calvin Hanebeck, Gereon Mewes, Stefanie Kunkel
Die Digitalisierung hat die Art und Weise verändert, wie wir mit Freunden, Familie und Kollegen kommunizieren und zusammenarbeiten. In ähnlicher Weise verändert die Digitalisierung in der Industrie – die sogenannte Industrie 4.0 – die Art und Weise, wie Unternehmen und ihre Zulieferer in globalen Lieferketten zusammenarbeiten. Bedenkt man, dass 25 Prozent der globalen Emissionen im Jahr 2021 in der Industrie verursacht wurden (IEA) stellt sich die Frage, ob die Industrie 4.0 eine Rolle bei der nachhaltigeren Gestaltung industrieller Lieferketten spielen wird. Forscher*innen des Research Institute for Sustainability (RIFS) am GFZ Potsdam haben die Chancen und Risiken digitaler Lieferketten für ökologische Nachhaltigkeit in Lieferketten untersucht. Kurzum: Nachhaltigkeit entsteht nicht automatisch als Nebenprodukt der Digitalisierung. Unternehmen sollten unabhängig von der Digitalisierung ambitionierte Ziele im Hinblick auf die Nachhaltigkeit ihrer Lieferkette anstreben – sei es durch digitale oder nicht-digitale Zusammenarbeit.
Hintergrund
Lieferketten werden immer digitaler, da Unternehmen zunehmend den Standard der Industrie 4.0 umsetzen. Sie entwickeln cyberphysische Systeme, um eine vernetzte und autonome Produktion zwischen Unternehmen und über Ländergrenzen hinweg in globalen Lieferketten zu verwirklichen. Es ist zu erwarten, dass derart digitale Lieferketten die Kosten industrieller Produktion für Unternehmen senken und die Zusammenarbeit zwischen ihnen erleichtern. Ebenso sollen digitale Lieferketten den Austausch von Informationen über ökologische Nachhaltigkeit und die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen bei Themen wie nachhaltiger Innovation und Kreislaufwirtschaft fördern. Doch inwieweit haben Unternehmen digitale Lieferketten tatsächlich bereits realisiert? Und wie wirken sich digitale Lieferketten wirklich auf ökologische Nachhaltigkeit aus? Forscher*innen des Research Institute for Sustainability (RIFS) in Potsdam haben in einer Studie chinesische Zulieferer und internationale Käufer*innen aus der Elektronikbranche befragt, um mehr über die Erfahrungen der Unternehmen mit Zusammenarbeit im Bereich Nachhaltigkeit in digitalen Lieferketten zu erfahren.
Unterschiedliche Reifegrade bei der Digitalisierung
Nicht alle Unternehmen haben den gleichen Digitalisierungsgrad in der Zusammenarbeit in ihrer Lieferkette. In ihrer Studie unterscheiden die RIFS-Forscher*innen zwischen einem niedrigen, mittleren und hohen digitalen Reifegrad bei der digitalen Zusammenarbeit in der Lieferkette. Ein niedriger digitaler Reifegrad wird durch die Nutzung von Telefon und Papier-Kommunikation charakterisiert. Ein mittlerer digitaler Reifegrad ist durch die Nutzung von E-Mail-, Office-Programmen, elektronischem Datenaustausch oder Enterprise Resource Planning (ERP)-Systemen gekennzeichnet. Ein hoher digitaler Reifegrad liegt laut den Forscher*innen vor, wenn Schlüsseltechnologien der Industrie 4.0, wie das Internet der Dinge (IoT), Big Data Analytics (BDA) und künstliche Intelligenz (AI), Cloud Computing und additive Fertigung verstärkt eingesetzt werden.
Welche Chancen, Risiken und Hindernisse entstehen durch Digitalisierung für eine nachhaltige Zusammenarbeit in der Lieferkette?
Über den generellen Einsatz von digitalen Technologien hinaus, haben die Forscher*innen nach Chancen, Risiken und Hindernissen gefragt, die den Unternehmen im Zusammenhang mit der Digitalisierung für die Zusammenarbeit zu Nachhaltigkeit in der Lieferkette entstehen.
Chancen
Was Chancen betrifft, so sahen die befragten Unternehmen Digitalisierung als einen erleichternden Faktor für grüne Innovation und Wissensaustausch zu ökologischen Themen. Es bestand etwa Interesse an der unterstützenden Rolle digitaler Technologien bei der Messung von CO2-Emissionen entlang der Lieferkette, jedoch waren die Unternehmen sich über konkrete digitale Lösungen für derartige Messungen nicht im Klaren. Eine weitere Chance wurde in der ökologischen Optimierung von Logistikketten gesehen, etwa durch die Verkürzung der Routen von LKW-Flotten in Logistikprozessen, wenn diese mittels Algorithmen optimiert werden. Außerdem bestand die Erwartung, dass digitale Technologien dazu beitragen werden, die Kreislauffähigkeit von Materialien zu erhöhen. Mehrere Unternehmen erwähnten die Möglichkeit verbesserter Zusammenarbeit beim Recycling in digitalen Lieferketten, etwa durch die digitale Rückverfolgung von Behältern und wiederverwendbaren Verpackungen, was die Menge und die Kosten von Verpackungen senken könnte.
Risiken
Was Risiken betrifft, so zeigten die Interviews, dass trotz hoher Erwartungen weder die Lieferanten noch die Käufer*innen digitale Technologien intensiv für die Zusammenarbeit im Bereich Nachhaltigkeit in der Lieferkette nutzen. Die Mehrheit der Unternehmen erwähnte zwar die Potenziale digitaler Lieferketten für Energie- und Materialeffizienz-Steigerungen, schöpfte diese Potenziale aber noch nicht aus. Die Unternehmen schienen digitale Technologien eher für Marketingzwecke (z.B. die Erfassung und Vorhersage von Kundenwünschen) oder die wirtschaftliche Optimierung von Lieferketten als zum Zweck der Nachhaltigkeit zu nutzen. So sehen die Forscher*innen die Gefahr, dass Digitalisierung bestehende, nicht nachhaltige Geschäftsmodelle optimiert, anstatt transformative Geschäftsmodelle zu fördern. Darüber hinaus besteht das Risiko digitaler Rebound-Effekte, wenn Effizienzsteigerungen die Kosten der Produktion senken, was im schlimmsten Fall zu einem erhöhten Energieverbrauch führen kann. Zuletzt ist zu erwähnen, dass die Lieferketten nicht in ihrer Gesamtheit betrachtet wurden. Lieferanten, die weiter vorgelagert sind (näher an der Beschaffung von Rohstoffen), wurden bei der digitalen Zusammenarbeit in der Lieferkette selten berücksichtigt, obwohl die Nachhaltigkeitsrisiken hoch sein könnten.
Hindernisse
Hinsichtlich der Hindernisse für eine Zusammenarbeit zu Nachhaltigkeit in der Lieferkette gaben die Unternehmen an, dass es an qualifiziertem Personal mangele, sodass digitale Nachhaltigkeits-Lösungen möglicherweise nicht umgesetzt werden können. Außerdem schienen einige Unternehmen aus Gründen der Datensicherheit immer noch zu zögern, digitale Technologien hohen Reifegrades zu nutzen. Die digitale Infrastruktur wurde teils als nicht sicher genug für die Weitergabe sensibler Daten über geistiges Eigentum, wie z. B. industrielle Innovationen, betrachtet. Schließlich trugen auch niedrige gesetzliche Anforderungen zu einer geringen Priorisierung der Überwachung von Umweltindikatoren und begrenztem Interesse an der (digitalen) Zusammenarbeit zu Nachhaltigkeit in der Lieferkette bei.
Fazit zu digitalen Lieferketten
Die Forscher*innen kommen zu dem Schluss, dass die digitale Zusammenarbeit in der Lieferkette im Bereich der Nachhaltigkeit in den befragten Unternehmen nur wenig ausgeprägt ist. Erstens schienen nur wenige Unternehmen überhaupt einen hohen digitalen Reifegrad bei der Zusammenarbeit in der Lieferkette zu haben. Zweitens mangele es den Unternehmen an Anreizen, mittels digitaler Lieferketten im Bereich der Nachhaltigkeit zusammenzuarbeiten. So wurde berichtet, dass digitale Technologien in erster Linie für wirtschaftliche Zwecke eingesetzt werden. Dies berge das Risiko, dass durch noch effizientere nicht-nachhaltige Geschäftsmodelle und Rebound-Effekte sogar noch größere Umweltprobleme geschaffen werden.
Wie geht es weiter? Empfehlungen für nachhaltigere digitale Lieferketten
Um die Nachhaltigkeit in (digitalen) Lieferketten zu fördern, machen die RIFS-Forscher*innen drei Empfehlungen für Politik und Unternehmen:
- Förderung von digitalen Umwelt-Upgrades der Lieferkette: digital reifere und in Hinblick auf ökologische Nachhaltigkeit aktive Unternehmen sollten weniger reife Unternehmen in der Zusammenarbeit zu Nachhaltigkeit durch digitale Technologien unterstützen, etwa durch die Stärkung der Erfassung und Weitergabe von Umweltdaten, die Bereitstellung von (digitalen) Schulungen zu Nachhaltigkeit, und die Weitergabe von Wissen zu umweltfreundlicheren Betriebsabläufe.
- Schaffung von wirtschaftlichen und ökologischen Win-Win-Situationen: Unternehmen sollten attraktive Geschäftsszenarien für umfassende digitale Zusammenarbeit zu Nachhaltigkeit entwickeln. Dafür sind Strategien gefragt, die sowohl Geld sparen als auch umweltfreundlichere Abläufe durch digitale Zusammenarbeit ermöglichen, etwa durch die Ermittlung von Energieeinsparpotenzialen auf Basis der digitalen Erfassung von Energie-Verbräuchen entlang der Lieferkette.
- Verbesserung rechtlicher Rahmenbedingungen: politische Entscheidungsträger*innen sollten Regulierung schaffen, die Unternehmen zur Schaffung nachhaltiger (digitaler) Lieferketten verpflichtet (ein positiver Schritt in diese Richtung ist der EU-Vorschlag für eine Richtlinie über die Sorgfaltspflicht für Unternehmen und die EU Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen).
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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