Demokratie im Internet: Plattformräte als Beratungsinstrument für soziale Medien
Hamburg, Berlin, Innsbruck, 04. Mai 2023 – Ein Forschungsteam veröffentlicht politische Handlungsempfehlungen für die Umsetzung von unabhängigen Gremien zur Kontrolle von Social-Media-Plattformen. Es hat ein Jahr lang untersucht, wie demokratische Werte und die Menschenrechte im digitalen Raum geschützt werden können. Die Wissenschaftler*innen schlagen sogenannte Plattformräte (eng: Social Media Council/SMC) als sinnvolles Beratungsinstrument für private Plattformunternehmen vor. Sie können die Interessen von Bürger*innen, Industrie und Politik bei wichtigen Entscheidungsfragen in Punkten wie Diskriminerung, Meinungsfreiheit oder Desinformation vertreten. Das Forschungsprojekt „Plattform://Demokratie” wird von der Stiftung Mercator gefördert und vom Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI), dem Alexander von Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) und dem Institut für Theorie und Zukunft des Rechts der Universität Innsbruck durchgeführt.
Für Professor Wolfgang Schulz, Medienrechtsexperte und Forschungsdirektor am HIIG und HBI, steht fest: „Soziale Medienplattformen wie Facebook, TikTok oder Twitter haben private und mächtige Kommunikationsordnungen geschaffen. Mit eigenen Nutzungsbedingungen und algorithmischen Moderationspraktiken kontrollieren sie, was auf ihnen gesagt werden darf und was nicht.” Schulz zufolge wird dabei nicht danach gefragt, „wer bei diesen Entscheidungen die Interessen der Plattformnutzer*innen und die der breiten Öffentlichkeit vertritt.”
Aus diesem Grund haben 35 Forschende aus sechs Kontinenten in dem von der Stiftung Mercator geförderten Forschungsprojekt untersucht, welche Modelle der Rückbindung von privaten Ordnungen an gesellschaftliche, ethische und moralische Werte weltweit schon existieren. Dafür sichteten sie zunächst in Afrika, Asien, Australien, Europa und den amerikanischen Kontinenten verschiedene aktive Kontrollaufsichten wie Medien-, KI- und Fernsehräte. Anschließend analysierte das Forschungsteam, wie diese Beratungsgremien die Öffentlichkeit gegenüber privaten Akteuren in Bereichen wie Medienregulierung, Internet, Jugendschutz und Schulen vertreten. „Es gibt bisher kein Patentrezept, um die Demokratie im digitalen Zeitalter zu sichern”, sagt Professor Matthias C. Kettemann, „ja, nicht einmal ein geteiltes Bewusstsein darüber, was das Problem ist”. Für den Leiter des Forschungsprojektes hat die Untersuchung hier wichtige Erkenntnisse geliefert: „Unsere regionalen Studien konnten zeigen, dass Modelle der gesellschaftlichen Rückbindung weltweit funktionieren. Es gibt also ein echtes Bedürfnis dafür, mächtige Kommunikationsakteure – wie Plattformen – dabei zu beraten und zu kontrollieren, wie sie Regeln setzen und diese algorithmisch durchsetzen.” Kettemann fasst zusammen: „Plattformräte sind ein tragfähiges Instrument, um die großen sozialen Medien in wichtigen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zu beraten.”
Die Ergebnisse der Untersuchung kommen zu einer Zeit, in der auch die Bundesregierung diese Idee voranbringen möchte. In ihrem Koalitionsvertrag findet sich das Ziel, Plattformräte als Gremien weiterzudenken, die sich staatliche Verteter*innen, Expert*innen und ausgewählten zivilgesellschaftlichen Akteur*innen zusammensetzen sollen.„Kompromisse im Design der Räte müssen dabei aber sorgfältig abgewogen werden”, betont Projektmitarbeiterin Josefa Francke. „Sie müssen fair und inklusiv besetzt sein und man muss sicherstellen, dass ihre Mitglieder Zugang zu ausreichendem Fachwissen haben.”
Braucht jede Plattform und jedes Land einen eigenen Rat? Das finden die Wissenschaftler*innen weniger sinnvoll. Ihre Ergebnisse sprechen für eine übergreifende Kommission, die sich auf die Gewährleistung der Menschenrechte im Internet konzentriert. Sie könnte – nach dem Vorbild der Venedig-Kommission des Europarats – das Fachwissen in diesem Themenfeld bereitstellen. Besonders, so Professor Wolfgang Schulz, „wenn es um Entscheidungen geht, die Plattformen und die öffentlichen Interessen in besonderer Weise berühren. Zum Beispiel die Frage, wie Personen des politischen Lebens, wie Donald Trump, behandelt werden sollten. Oder ob und wie Plattformen mit bestimmten Medieninhalte am besten umgehen. Müssen sie etwa ihre Empfehlungssysteme auf Vielfalt ausrichten?”. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts sind wegweisend für kommende Testfälle in der Politik, sowohl in Deutschland als auch global.
Öffentliche Diskussion der Ergebnisse
Am Donnerstag, den 04. Mai, können Interessierte die Präsentation der Ergebnisse um 18 Uhr bei einer digitalen Podiumsdiskussion mitverfolgen. Sie können sich für den Digitalen Mercator Talk unter folgendem Link anmelden.
Weitere Informationen
Forschungsergebnisse und politische Handlungsempfehlungen
Plattform://Demokratie Forschungsprojekt
Zum Weiterlesen
Parlamente für Plattformen: Faire Regulierung für Online-Kommunikationsräume. | turi2
Plattformräte: Können sie digitale Plattformen zur Verantwortung drängen?
Musks Scheindemokratie: Trump wieder auf Twitter
Wie soll die digitale Demokratie aussehen?
Kontakte für Presse und Fragen zum Projekt
Frederik Efferenn
Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG)
Tel. +49 30 200 760 82
presse@hiig.de
Prof. Dr. Matthias C. Kettemann, LL.M. (Harvard)
Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) (Hamburg)
Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG)
Tel. 0049 176 817 50 920
matthias.kettemann@hiig.de
Das Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft
Das Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) erforscht die Entwicklung des Internets aus einer gesellschaftlichen Perspektive, um die damit einhergehende Digitalisierung aller Lebensbereiche besser zu verstehen. Als erstes Forschungsinstitut in Deutschland mit einem Fokus auf Internet und Gesellschaft hat das HIIG ein Verständnis erarbeitet, das die Einbettung digitaler Innovationen in gesellschaftliche Prozesse betont. Basierend auf dieser transdisziplinären Expertise und als Teil des Global Network of Interdisciplinary Internet & Society Research Centers will das HIIG eine europäische Antwort auf den digitalen Strukturwandel entwickeln.
Das Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut
Das Leibniz-Institut für Medienforschung │Hans-Bredow-Institut (HBI) erforscht den Medienwandel und die damit verbundenen strukturellen Veränderungen öffentlicher Kommunikation. Medienübergreifend, interdisziplinär und unabhängig verbindet es Grundlagenwissenschaft und Transferforschung und schafft so problemrelevantes Wissen für Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Das Institut erforscht, wie bestimmte Formen der mediengestützten Kommunikation Lebensbereiche wie Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung, Recht, Religion und Familie mitprägen und zu strukturellen Transformationen beitragen. Mit der Problemorientierung der Forschung geht dabei ein besonderes Interesse an den jeweils „neuen“ Medien einher, zu deren Verständnis und Gestaltung das Institut beitragen will.
Das Institut für Theorie und Zukunft des Rechts der Universität Innsbruck
Das Institut für Theorie und Zukunft des Rechts wurde 2019 als zehntes Institut der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck gegründet. Im Zentrum von Lehre und Forschung am Institut stehen Rechtsfragen, die sich aus neuen Entwicklungen in Gesellschaft, Politik, Technik und Wirtschaft ergeben. In vielfältigen Forschungsprojekten setzen sich Institutsmitglieder mit der Governance von Plattformen, Exoskeletten, Quantenethik, KI und Nachhaltig auseinander. Die
Stiftung Mercator
Die Stiftung Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung, die auf der Grundlage wissenschaftlicher Expertise und praktischer Projekterfahrung handelt. Sie strebt mit ihrer Arbeit eine Gesellschaft an, die sich durch Weltoffenheit, Solidarität und Chancengleichheit auszeichnet. Um diese Ziele zu erreichen, fördert und entwickelt sie Projekte, die Chancen auf Teilhabe und den Zusammenhalt in einer diverser werdenden Gesellschaft verbessern. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa will die Stiftung Mercator durch ihre Arbeit stärken, die Auswirkungen der Digitalisierung auf Demokratie und Gesellschaft thematisieren und den Klimaschutz vorantreiben. Die Stiftung Mercator engagiert sich in Deutschland, Europa und weltweit. Dem Ruhrgebiet, Heimat der Stifterfamilie und Stiftungssitz, fühlt sie sich besonders verbunden.