Unsere vernetzte Welt verstehen
Retro ist überall. Und überall gleich?
“Retro ist eine Art Fluchtreflex auf zu viel Neues”, meinte HIIG-Forscher Sascha Friesike im Interview mit der dpa. Aber warum sieht Retro überall gleich aus? Und wieso stehen vor allem Kreative und Digitale Nomaden auf altmodischen Tand? Michael Metzger hat weiter nachgebohrt – und im Gespräch mit Friesike einiges über Einheitscafés und künstliche Veralterung herausgefunden.
Metzger: Auf “The Verge” hat Kyle Chayka festgestellt, dass Coworking-Spaces und hippe Cafés weltweit alle gleich aussehen, obwohl sie keiner gemeinsamen Kette angehören. Chayka schreibt, dass vom Silicon Valley ausgehend in die gesamte Welt eine gemeinsame Ästhetik exportiert würde, die es digitalen Nomaden erlaubt, sich überall heimisch zu fühlen. Dafür hat er in Anlehnung an AirBnB den Begriff “AirSpace” geprägt. Dieser sieht laut Chayka ziemlich altmodisch aus: “die selben Tische aus unbehandeltem Holz, freigelegte Backsteinwände und hängende Edison-Glühbirnen”
Friesike: Das Silicon Valley soll jetzt der Ursprung aktueller Ästhetik sein? Das finde ich befremdlich, denn das meiste dort ist doch recht geschmacksbefreit. Es ist wohl eher so, dass sich ein ästhetischer Zeitgeist durch das Netz sehr schnell verbreiten lässt. Die Software mag aus dem Valley kommen, die Ästhetik sicher nicht. Design war ja traditionell etwas regionales. Reetdächer auf Juist sehen komplett anders aus als die Dächer Schweizer Berghütten. Dieser regionale Charakter ist aber mit dem Netz verloren gegangen. Nun haben wir es mit einer globalen Welle scheinbarer Retro-Ästhetik zu tun.
Nicht das Silicon Valley, sondern das Netz als globales Phänomen beeinflusst also Ästhetik – und ist verantwortlich für die Retro-Welle?
Genau. Mir ist die Tragweite dessen zum ersten Mal vor ein paar Jahren in Indonesien bewusst geworden. Ich habe nach gutem Kaffee gesucht und bin dabei auf ein Café gestoßen, das genau so aussieht, wie die hippen Cafés in Paris. Besonders sind mir zwei Dinge aufgefallen: Tolix-Hocker und Jielde-Lampen. Das sind beides Produkte, die früher in Frankreichs Werkstätten sehr verbreitet waren. Später bekam man sie dort auf jedem Flohmarkt. In Paris stehen sie noch heute in vielen Cafés, weil sie quasi unkaputtbar sind. Aber warum finde ich diese beide Dinge in einem Café in Indonesien? Haben die dort sonst keine Hocker?
Also wird über das Internet eine bestimmte Ästhetik verbreitet, die nur so tut als ob sie retro ist?
Wahrscheinlich hat das jemand im Netz gesehen und denkt nun: So sieht ein hippes Café aus. Wenn man genau drauf achtet, dann sieht man diese Lampen und Hocker heute überall. In Berlin, in Bangkok, in Melbourne, wer ein hippes Café aufmacht, kauft Tolix-Hocker und Jielde-Lampen. Dabei macht das außerhalb von Frankreich wenig Sinn. Man kann diese Hocker übrigens heute noch neu kaufen, oder man kauft die alten, gebraucht. Die gebrauchten kosten ein Vielfaches von den neuen, so gefragt sind alte französische Hocker. Neulich bin ich in Berlin am “Flagshipstore” des Küchenherstellers Boffi vorbeigekommen. Im Schaufenster zu sehen eine 50.000 Euro Küche und ein alter Tolix-Hocker, richtig alt, mit Rost und allem, muss ein Vermögen gekostet haben. Wir haben es also mit einem ästhetischen Zeitgeist zu tun, der stark globalisiert ist. Liegt in meinen Augen daran, dass man Bilder sehr gut über das Netz verbreiten kann und so haben Innenarchitekten überall auf der Welt das Bedürfnis, Orte so einzurichten, wie die Cafés in Paris – und nicht wie im Silicon Valley – Instagram sei dank.
In deinem Forschungsprojekt zu Innovation hast du herausgefunden, dass “Vererbung” ein Prinzip von Innovation ist: Eine neue Idee erbt Elemente von den Großeltern, also der vorletzten Ideen-Generation, und vermischt diese mit aktuellen Inhalten. Wenn Digitale Nomaden heute Apfelkuchen nach einem Rezept von 1869 verspeisen und dabei auf Opas altem Ledersofa sitzen – gibt es auch da einen neuen, innovativen Remix?
Sicher. Die aktuelle Retro-Ästhetik ist nicht alt, sie ist total modern. Sie bedient sich nur alter Elemente. Das kann man ganz gut an einem Beispiel illustrieren. Couchtische sind über die letzten 100 Jahre kontinuierlich tiefergelegt worden. Wenn man sich Wohnzimmer aus den 1920er Jahren anschaut, dann war der Couchtisch so hoch, dass man daran essen konnte. Später war er zu hoch, um den dahinter stehenden Fernseher zu sehen. Die Tieschbeine wurden gekürzt. Wir alle kennen die etwas flacheren Nierentische aus den 60er Jahren. Im Laufe der Zeit wurde der Tisch immer flacher. Heute sieht man nicht selten alte Weinkisten, die jemand zu einem Couchtisch umfunktioniert hat. Die Kiste selbst mag 100 Jahre alt sein, vor 100 Jahren wäre aber niemand auf die Idee gekommen, sie als Couchtisch zu verwenden. Wir gehen also durchaus zurück in der Zeit, suchen Dinge, die wir heute als schön empfinden und integrieren sie in unser aktuelles Leben. Ganz oft verändert sich dadurch aber ihr Einsatzzweck, weil wir sie neu interpretieren. Die Caféhäuser vor 100 Jahren wären aus allen Wolken gefallen, wenn da jemand Hocker aus der Werkstatt reingestellt hätte.
Der Retro-Trend ist deutlich sichtbar bei Kleidung, Möbeln und Essen. Was ist mit immateriellen Feldern? Gibt es eine Retro-Bewegung in der Musik, in politischen Ideen oder in Geschlechterrollen?
Retro bedeutet eigentlich immer, dass man die aktuelle Situation zum Anlass nimmt, zu reflektieren und zu dem Ergebnis kommt, dass eine alte Herangehensweise besser zu einem passt. Geschlechterrollen sind vielleicht kein ideales Beispiel, aber wenn wir uns Beziehungen als solches angucken, dann findet man auch dort Retro-Trends. Kirchliche Hochzeiten zum Beispiel. Etliche Leute, die nie in die Kirche gehen, lassen sich kirchlich trauen, um einem Retro-Ideal nachzukommen. Und auch in der Kunst hat man eigentlich kontinuierlich die Beziehung auf frühere Epochen. Wenn man sich zum Beispiel Gregory Porter anhört, dann klingt er in vielem sehr ähnlich zu den Künstlern auf den alten Jazz-Platten meines Opas.
Je weiter die Digitalisierung voranschreitet, desto stärker wird auch die Retro-Bewegung als Sehnsucht nach dem Haptischen. Aber gibt es innerhalb der Digitalisierung eine Retro-Bewegung? Netscape statt Google Chrome, Nokia statt Apple, Pixel-Grafik statt Virtual Reality?
Ich glaube die Leute tun sich damit sehr schwer. Im Digitalen wirkt ein alter Look sehr schnell artifiziell, davon ist man in den letzten Jahren eigentlich eher weggekommen. Apples Kalender hatte früher einen Lederrand. Das sollte aussehen, wie ein alter Kalender, war aber keiner. Und diese künstliche Veralterung kam nicht besonders gut an. Wenn man sich einen alten Hocker in die neue Küche stellt, dann soll das ja irgendwie die Vergänglichkeit der Dinge symbolisieren. Die Ästhetik steckt quasi im Ergebnis der jahrzehntelangen Abnutzung. Bei Software gibt es das nicht. Alte Software bekommt keine Patina. Bei Hardware ist das schon eher denkbar. Es gibt zum Beispiel Leute, die sich einen Mac aus den 80er Jahren kaufen, den entkernen und ein iPad anstelle des alten Röhrenbildschirms reinstecken. Damit hat man die alte Optik bewahrt, sie aber mit neuer Technologie ausgestattet.
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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