Unsere vernetzte Welt verstehen
Mehr Energie für die Energie
Was, wenn der gesamte Fortschritt der Gesellschaft vom zukünftigen Energiesystem abhängt? Zumindest argumentieren so Vordenker wie Jeremy Rifkin. Die Liste der Herausforderungen, welche die Energiewende mit sich bringt, ist umfangreich – allen voran weltweit vereinbarte Klimaziele, um den Ausstoß von CO2 zu minimieren. Insbesondere Politik und Wirtschaft müssen sich nun damit auseinandersetzen, wie sie das Interesse der BürgerInnen am Thema Energie wecken und diese zur Gestaltung des Energiesystems der Zukunft anregen können. Erkenntnisse aus der Praxis und unserer Forschung liefern einen Eindruck, wie einzelne Menschen bereits aktive Akteure der Energiewende sind – es aber alle werden sollten.
Die komplette Umgestaltung des Energiesystems ist eigentlich keine Frage der Zeit. Sie ist notwendig, um die festgelegten Klimaziele des mehrheitlich ratifizierten Pariser Abkommens aus dem Jahr 2015 einzuhalten und die globale Erwärmung auf mindestens 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Auch ohne die USA, die ihre auch innenpolitisch heftig kritisierte Aufkündigung zum Jahr 2020 bekannt gegeben hatte, bleibt dies eine weltgesellschaftliche Aufgabe. In Deutschland gilt dafür der nationale Klimaschutzplan 2050, in Berlin mit dem Masterplan Solarcity bis dahin das Ziel einer klimaneutralen Hauptstadt. Die damit einhergehenden Herausforderungen wurden im Rahmen des Akademienprojekts „Energiesysteme der Zukunft“ mit Handlungsoptionen bewertet, zu denen unter anderem die Einführung einer CO2-Steuer gehört. Die Dringlichkeit wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass das deutsche CO2-Jahreskontingent für 2018 bereits zum 28. März verbraucht wurde. Bei gleichbleibendem CO2-Ausstoß würde das Gesamtbudget im Hinblick auf das Zwei-Grad-Ziel schon 2025 vollständig aufgebraucht sein. Die Stromerzeugung aus fossilen Energieträgern produziert dabei erhebliche Emissionen durch Treibhausgase, im Schnitt etwa 435 Gramm pro Kilowattstunde.
Die Energiewende 2.0
Der Lösungsansatz zur notwendigen Dekarbonisierung ist die ganzheitliche Kopplung von Elektrizität, Wärme- und Kälteversorgung, Verkehr und Industrie, die als Schlüsselkonzept der Energiewende 2.0 gilt. Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Energiesystem mit dem Ziel 100 Prozent des Energiebedarfs aus Erneuerbaren zu decken, wird sich die Energiewirtschaft sukzessive sich in eine Stromwirtschaft transformieren, da die erneuerbaren Energien aus Wind-, Solar und Wasserkraft hauptsächlich Strom liefern. Die Integration der verschiedenen Smart-Energie-Systeme wird dann in der Konsequenz zu einer elektrifizierten Gesellschaft führen (All Electric Society).
Die Umgestaltung des Energiesystems wird uns als Individuen auf mehreren Ebenen treffen. Zum einen wird beim Aufbau einer Infrastruktur für die Energiewende und zur Vorhaltung von ausreichenden Kapazitäten unsere gewohnte Landschaft umgestaltet werden müssen, was schon jetzt in vielen Regionen auf Akzeptanzgrenzen stößt. Zum anderen werden wir unser gewohntes Energieverhalten auf diese neuen Verhältnisse und Ziele hin anpassen müssen. Vor diesem Hintergrund muss man sich also fragen, wie sich die nahe Energiezukunft konkret für jeden Einzelnen von uns gestalten müsste? Bei näherer Betrachtung lässt das eigentlich nur einen Schluss zu. Wir müssen alle mehr Energie für unsere Energie investieren. Denn wenn wir die Energiewende als gesellschaftliche Praxis begreifen und ernst nehmen, bedeutet dies folglich eine unausweichliche Vervielfachung der bisher dafür aufgewendeten, individuellen Lebenszeit mit dem Thema Energie.
Vordenker wie Jeremy Rifkin argumentieren sogar, dass der Fortschritt unserer gesamten Gesellschaft zentral auf dem Energiesystem beruht und dabei NutzerInnen und VerbraucherInnen eine wichtige Rolle spielen (Rifkin 2014). Rifkin beschreibt, dass aktive und innovative NutzerInnen einen integralen Bestandteil in der Ausgestaltung eines nachhaltigen Energiesystems spielen werden und so heute grundlegende Veränderungen herbeiführen. Wie genau eine solche Einbindung und Mitgestaltung im Einzelnen aussieht und wie solche Veränderungen auf einzelne Länder wie Deutschland wirken, diskutiert Rifkin jedoch nicht.
Energiekunden sind auch Energiebürger
Wir alle haben einen Stromvertrag bei einem Energieversorger abgeschlossen, erhalten entweder konventionellen „grauen“ Strom oder im besten Falle ausschließlich „grünen“ Ökostrom. Damit ist in den meisten Fällen schon das Ende der Anteilnahme an der Energiewende in den privaten Haushalten erreicht. Strom gilt bisher als langweiliges Commodity-Produkt und wird mit Attributen wie „low engagement”, „low interest” und „low involvement” beschrieben. Ein Großteil der Kunden am Markt hält den Preis immer noch für das wichtigste Argument bei der Energieversorgung und als primären Auslöser für einen Wechsel des Anbieters. Im Hyperwettbewerb müssen die zumeist wechselwilligen KundInnen mit kostenintensiven Bonuszahlungen teuer erkauft werden. Die Margen im Privatkundenbereich sind dabei alles andere als rentabel. Viele Energieversorger bemühen sich deshalb nun um eine nachhaltigere Kundenbeziehung, damit sich die teuren Akquisekosten über die Laufzeit der Kundenbeziehung amortisieren und schlussendlich vielleicht doch noch profitabel werden. Die Kundenbindung steht nun vermehrt im Mittelpunkt der unternehmerischen Aktivitäten und kundenzentrierte Ansätze werden oft diskutiert und stellenweise bereits eingesetzt. Man versucht sich am großen Vorbild Amazon und dessen konsequenter customer obsession zu orientieren. Klassische Instrumente wie Kundenbeiräte, Befragungen zu Servicequalität, Produkten und Kundenzufriedenheit werden neben neuen Methoden zur nutzerzentrierten Ideenfindung (Design Thinking) oder nutzerorientierter Gestaltung (User Centered Design) eingesetzt.
Zusätzlich werden Erkenntnisse aus vorhanden Daten gewonnen (Data Analytics), um beispielsweise potentiellen Kündigungen mit entsprechenden Maßnahmen präventiv entgegenzutreten. Darüber hinaus befinden sich die Versorger in der paradoxen Situation, dass ihre klassischen Geschäftsmodelle, die bislang von der Absatzmenge genährt wurden, immer schneller an Profitabilität verlieren, sie aber gleichzeitig mit Angeboten zur Energieeffizienz zum Stromsparen aufrufen müssen. Dies hat zur Folge, dass sie mit neuen Geschäftsfeldern experimentieren und ihre Geschäftsmodelle teilweise kannibalisieren müssen. Deshalb verfolgen die meisten Akteure einen Open-Innovation-Ansatz, um smarte Produkte und Services anbieten zu können, die eine langfristige und loyale Kundenbindung über das digitale Kundenerlebnis ermöglichen.
Eine konkrete Umsetzung ist die aktive Teilnahme von KundInnen an unternehmensgetriebenen Innovationsprozessen (Co-Creation). Ein Erfolgsbeispiel wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes am HIIG untersucht und in einer Fallstudie näher beleuchtet. Der Fall Feldheim stellt aufgrund der engen Zusammenarbeit zwischen Energieunternehmen, lokaler Politik und BürgerInnen ein geeignetes Beispiel dar, wie das Wechselspiel von Akzeptanz und Partizipation zur erfolgreichen Realisierung von Infrastrukturprojekten führen kann. Eine wichtige Erkenntnis dabei ist: KundInnen sind gleichzeitig auch immer BürgerInnen ihrer Stadt und somit an ihrer unmittelbaren Lebenswelt interessiert. Gerade die von der Bevölkerung ausgehenden Impulse zu einer smarten Energieversorgung könnten bei der Erstellung von Konzepten für Kommunen und der Entwicklung von Smart Cities hilfreich sein.
Von Kundenintegration zu Nutzerinnovation
Ein attraktiv gestaltetes, individuelles Kundenerlebnis könnte es vollbringen BürgerInnen bzw. KundInnen zu aktivieren und an der Energiewende teilhaben zu lassen. Am Markt kann diese Bewegung schon seit einer Weile beobachtet werden. Neue Geschäftsmodelle wie Direktvermarktungsplattformen für den Handel mit Produzenten, Bürgerbeteiligungsmodelle mit regionalen Erzeugungsanlagen, integrierte Quartierslösungen oder Mieterstrommodelle mit Solaranlagen sind bereits manifeste Beispiele erster High-Involvement-Produkte, die über die bloße Belieferung mit Ökostrom hinausreichen und zur nachhaltigen Umwälzung des Energiesystems beitragen können. Die Aufgabe besteht darin smarte Angebote zu entwickeln, die die Bedürfnisse aller Stakeholder optimal bedienen und konsequenterweise die Kunden in den Prozess der Entwicklung integrieren. Dabei wird sowohl Wert und Nutzen für den Kunden geschaffen, als auch Wert und Nutzen für das Unternehmen generiert (Dual Value Creation). Dabei ist die Öffnung der Unternehmen im Bereich der Produktinnovationen für Impulse von außen eine dringende Notwendigkeit.
„Der nächste große Sprung ist die Entwicklung zu Innovations-Ökosystemen. Die Unterscheidung zwischen einem Innen und einem Außen des Unternehmens verschwindet, wenn es um ganzheitliche Lösungen geht. Einheiten, die früher geschlossen waren, kooperieren heute stärker in Netzwerken: Organisationsabteilungen, Einzelpersonen, Kunden, Forschungseinrichtungen, Start-ups, gemeinnützige Communities, Aktive auf Social-Media-Plattformen. In diesem wilden oder strukturierten Durcheinander holt man sich von den jeweiligen Akteuren brauchbare und fruchtbare Impulse.“
Im Forschungsprojekt „Nutzerinnovationen für Smart Energy” haben wir seit 2015 eine weitere Gruppe von Akteuren untersucht. Das Phänomen der Nutzerinnovationen kann helfen, um zu verstehen, wie eine neue Form der aktiven Mit- und Ausgestaltung des Energiesystems der Zukunft aussehen könnte. Unter Nutzerinnovationen verstehen wir „die Erfindung und Entwicklung eines neuartigen Prototypen durch die Person, die diesen selbst nutzen möchte“ (Grün & Franke 2014, S. 311). NutzerinnovatorInnen handeln also in der Regel nicht aus wirtschaftlichem Kalkül, sondern versuchen intrinsisch motiviert ein eigenes Problem zu lösen. Wenn einzelne NutzerInnen oder Nutzerinnovationsgemeinschaften selbst innovativ tätig werden, ist der Auslöser meist, dass bestehende Lösungen ihre Bedürfnisse oft nicht ausreichend oder nicht mehr befriedigen. Die erst kürzliche Berücksichtigung von Nutzeraktivitäten als einen Bestandteil von Innovationsprozessen im überarbeiteten Handbuch der OECD Guidelines for Collecting, Reporting and Using Data on Innovation (2018) unterstreicht nochmal die zentrale Bedeutung des Phänomens.
Eine im Februar 2018 von uns veröffentlichte Studie in Kooperation mit co2online zeigt, dass 79 Prozent der Befragten mit dem aktuellen Angebot an intelligenten Energietechnologien für den Heimgebrauch bedingt oder gänzlich unzufrieden sind. Ein Weg, die Bedürfnisse und Sorgen des Anwenders besser zu verstehen, kann es sein sich genau mit den Menschen auseinanderzusetzen, die selbst Ideen entwickeln und innovativ tätig werden. Wie die Studie zeigt, geben 42 Prozent an, mindestens eine eigene Idee im Kontext von intelligenten Energietechnologien innerhalb der letzten drei Jahre gehabt zu haben. Zudem werden NutzerInnen oft selbst aktiv: Fast zwei Drittel der Befragten mit Ideen geben an, ihre Idee bereits umgesetzt zu haben oder gerade an der Umsetzung zu arbeiten.
Schaut man sich einmal konkrete Beispiele an wird schnell deutlich wie komplex die entwickelten Lösungen von einzelnen NutzerinnovatorInnen in Einzelfällen sein können. So berichten TeilnehmerInnen der Studie von der Entwicklung von Steuerungselementen eines 3-Wegeventils zur Unterstützung der Heizung durch die Solaranlage, eines selbstentwickelten Dashboards zur Überwachung und Steuerung der Ladung des Elektroautos, von Lösungen zur Beheizung des eigenen Schwimmbades durch Solarenergie, sowie der Vernetzung von proprietären Standardkomponenten durch eigene Schnittstellenlösungen. Grund für die Anstrengungen der InnovatorInnen ist dabei oft der Umstand, dass der Markt wenige oder keine passenden Produkte anbietet. Genau dann werden Menschen oft selbst aktiv, beginnen an eigenen, oft innovativen Problemlösungen zu tüfteln und investieren mitunter nicht unerhebliche private Ressourcen.
Viele dieser NutzerinnovatorInnen verwenden neben eigenem Fachwissen das Internet als Informations- und Wissensquelle. Dabei vernetzen sie sich oft mit anderen Interessierten und beginnen sogar in einigen Fällen gemeinsam an Prototypen zu arbeiten. Wie einschlägige Forschungsergebnisse gezeigt haben, sind diese Anstrengungen besonders dann erfolgversprechend, wenn verschiedene AnwenderInnen mit komplementären Kompetenzen zusammenkommen (Franke & Shah 2003; Lüthje 2004). Da Menschen, die in ihrer Freizeit selbst innovativ tätig werden, nicht nur Unzulänglichkeiten von bestehenden Produkten aufzeigen, sondern auch Lösungsvorschläge und Hinweise zur Verbesserung der Benutzerfreundlichkeit und Funktionalität liefern, können Unternehmen und Politik von diesen lernen (Das Internet der Energie und seine Pioniere).
Nutzerinnovationen als Teil der Energiezukunft
Zentrales Ziel der Forschung zu Nutzerinnovationen im Energiemarkt am HIIG ist es Aufmerksamkeit und Unterstützung auf neue Lösungsmuster zu richten und so eine Verbreitung und Skalierung von Nutzerinnovationen im Kontext der Energie- und Verkehrswende zu fördern. Wir versuchen insbesondere PraktikerInnen und EntscheidungsträgerInnen das Potential von Nutzerinnovationen zugänglich zu machen und zu erklären, wie NutzerinnovatorInnen einen integralen Bestandteil von Innovations-Ökosystemen bilden können. Durch unsere Aufklärungsarbeit regen wir nicht nur Unternehmen an NutzerinnovatorInnen aktiv einzubinden, sondern wollen eine gesamtgesellschaftliche Diskussion anstoßen, inwieweit dadurch kreative Menschen besser unterstützt und entlastet werden. In der Konsequenz wollen wir NutzerinnovatorInnen helfen, sich ihrer Selbstwirksamkeit bewusst zu werden und potentielle NutzerinnovatorInnen zu aktivieren.
Grundlage dieser Anstrengungen ist eine Bewusstseinsbildung. Wir verfolgen daher das Ziel, NutzerinnovatorInnen ihren Möglichkeits- und Handlungsraum aufzuzeigen und ihnen ein Vokabular für ihr Handeln zu geben. Dies hilft ihnen in ihrer Selbstwahrnehmung als NutzerinnovatorIn, aber auch Unternehmen, politischen EntscheidungsträgerInnen und dem interessierten Fachpublikum das Phänomen Nutzerinnovation in ihrem Handeln zu berücksichtigen. In den Ergebnissen der verschiedenen Projektabschnitte haben wir Handlungsempfehlungen entwickelt, die aufzeigen, wie die Zusammenarbeit von NutzerinnovatorInnen, Unternehmen und Gesellschaft aussehen kann. Gleichzeitig können unsere Forschungsergebnisse politischen EntscheidungsträgerInnen helfen optimale Rahmenbedingungen für nutzergetriebene Innovationsaktivitäten zu entwickeln. In der Konsequenz geht es um das Ziel, die Ideen und Lösungen von Einzelnen und Nutzerinnovationsgemeinschaften allen Mitgliedern der Gesellschaft zugänglich zu machen, eine Skalierung und breite Diffusion zu fördern und so die aktive Mitgestaltung von Interessierten an einer ökologischen, ökonomischen und sozialen Energiezukunft zu etablieren.
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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