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Rückschlag für die Content Moderation? Wie sich Musks Übernahme auf Twitters Regelwerk auswirkt
Elon Musks Übernahme von Twitter markiert einen kritischen Moment in der Geschichte der sozialen Netzwerke. Innerhalb weniger Tage hat Musk einige von Twitters über viele Jahre entwickelten Richtlinien öffentlich in Frage gestellt. Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch, dass sich die Inhaltsrichtlinien der Plattform bisher nicht geändert haben. Dennoch scheint Musks Führung darauf abzuzielen, einen 15-jährigen Lernprozess bei der Regulierung von Inhalten bei Twitter und in der Branche zurückzudrehen.
Die Übernahme von Twitter durch Elon Musk hat die Plattform ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit katapultiert. Innerhalb weniger Tage nach Abschluss der Übernahme postete der neue CEO der Plattform verifizierte Falschinformationen, entließ zwei Drittel der Twitter-Mitarbeiter und kündigte die Einführung eines Bezahlmodells für die Verifizierung von Konten an. Wenig später hob er die Sperre des Kontos von Ex-Präsident Donald Trump nach einer Umfrage unter Twitter-Usern auf und verkündete eine Generalamnestie für gesperrte Konten. Selten stand die Macht, die Plattformen über den öffentlichen Diskurs ausüben, so im Fokus der Öffentlichkeit.
Ein zentrales Mittel, mit dem Plattformen diese Macht ausüben, ist die Moderation von Inhalten, d. h. die Aufstellung und Durchsetzung von Regeln darüber, welche Art von Inhalten auf ihren Seiten erlaubt und verboten ist. Da sich die sozialen Netzwerke zu zentralen Kommunikationskanälen entwickelt haben und andere Formen der Regulierung häufig fehlen, fällt den selbstgeschriebenen Regeln der Plattformen eine entscheidende Bedeutung zu. Dies hat sich unter anderem in den Kontroversen um die Regulierung von Hassrede und Falschinformationen der letzten Jahre gezeigt, die auf die Rolle und Verantwortung von Plattformen für die Regulierung öffentlicher Kommunikationsdynamiken hinweisen
Musks Neuausrichtung von Twitter
Angesichts Musks früherer öffentlicher Kritik an der angeblichen Einschränkung der freien Meinungsäußerung durch Twitters Gemeinschaftsrichtlinien machte sich unter Nutzer:innen, Journalist:innen und Werbetreibenden daher Unsicherheit über die zukünftige Ausrichtung der Plattform breit. Unklar blieb zudem, wie die Plattform mit ihrem bestehenden Regelwerk umgehen würde. Verstärkt wurden diese Zweifel dadurch, dass Musk augenscheinlich Änderungen an bestehenden Richtlinien per Tweet verkündete. Weitere Verwirrung entstand, als die Online-Nachrichtenseite “The Hill” berichtete, dass Twitter seine Richtlinien zu Falschinformationen aus den “Twitter Regeln” entfernt habe.
Musk versuchte, die Wogen zu glätten, indem er versicherte, dass “keine größeren inhaltlichen Entscheidungen” vor der Bildung eines neuen Gremiums zur Moderation von Inhalten getroffen würden und dass “Twitters starkes Engagement für Content-Moderation absolut unverändert bleibt“. Darüber hinaus schien Musk bemüht die fortdauernde Gültigkeit der Twitter Regeln – Twitters zentralem Regelwerk für Inhalte – zu betonen, indem er twitterte: “Die Twitter Regeln werden sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln, aber sie sind derzeit die folgenden“. Doch selbst nach dieser Erklärung kündigte Musk in einem Tweet anscheinend eine Änderung von Twitters Richtlinie zum Umgang mit Parodie-Accounts an.
Ein verzweigtes Geflecht von Richtlinien
Eine nähere Betrachtung der historischen Entwicklung von Twitters Regelwerk auf der Grundlage unserer Forschungsdatenbank von Plattform-Richtlinien – dem Platform Governance Archive – kann einen Teil der aktuellen Verwirrung aufklären und wertvollen Kontext zur gegenwärtigen Transformation der Plattform liefern. Twitters Gemeinschaftsrichtlinien, die Twitter Regeln, tauchten erstmals im Januar 2009 auf Twitters Website auf, etwa zweieinhalb Jahre nachdem der Mikrobloggingdienst online ging. Seitdem dienen sie als zentraler Bezugspunkt dafür, welche Inhalte und Verhaltensweisen auf der Plattform erlaubt und verboten sind, und Twitter fordert seine Nutzer:innen regelmäßig dazu auf, zu überprüfen, ob ihr Verhalten im Einklang mit den Twitter Regeln steht.
Im Laufe der Jahre sind der Umfang und Geltungsbereich der Twitter Regeln enorm gewachsen, und sie haben sich von einem kompakten Dokument mit 567 Wörtern (einem einseitigen Ausdruck) zu einem komplexen Geflecht von Richtlinien mit insgesamt 19.131 Wörtern ausdifferenziert, das sich über viele verschiedene URLs erstreckt. Das Wachstum der Gemeinschaftsrichtlinien von Twitter erfolgte in Wellen und hat sich vor allem seit der zweiten Jahreshälfte 2017 mit zunehmendem öffentlichen und politischen Druck beschleunigt. Derzeit sind in den Twitter Regeln 19 Unterseiten verlinkt, auf denen die auf der Hauptseite genannten Richtlinien ausgeführt werden und die ihrerseits auf weitere Seiten wie andere Richtlinien, Hilfeseiten und Beschwerdeformulare verweisen.
Die Intransparenz von Twitters Regeln
Genau zu definieren, wo die Twitter Regeln beginnen und enden, ist daher an sich schon eine schwierige Aufgabe, zumal Twitter damit begonnen hat, spezifische Richtlinien außerhalb der Twitter Regeln zu schaffen, wie z. B. eine “Richtlinie gegen irreführende Informationen in einer Krise” und eine Richtlinie zu COVID-bezogenen Falschinformationen. Alle diese Richtlinien sind auf Twitters Übersichtsseite “Regeln und Richtlinien” aufgeführt. Auch im Fall der Aufnahme einer neuen Richtlinie in die Twitter Regeln kann es allerdings sein, dass die entsprechende Seite schon vorher existiert hat oder nach ihrer Entfernung aus den Twitter Regeln weiter besteht. Die Aufnahme einer Richtlinie in die Twitter-Regeln oder ihre Entfernung aus diesen kann daher nicht mit ihrem Inkrafttreten oder ihrer Abschaffung gleichgesetzt werden.
Dies verweist auf eine der Schwierigkeiten im Umgang mit Twitters Gemeinschaftsrichtlinien – und den Gemeinschaftsrichtlinien von Plattformen im Allgemeinen. Diese besteht darin, dass Gemeinschaftsrichtlinien im Gegensatz zu eher legalistischen Richtlinien wie den allgemeinen Geschäftsbedingungen oder der Datenschutzerklärung kein klar abgrenzbares Dokument darstellen. Mit der Ausdifferenzierung der Twitter Regeln von einem kompakten Regelwerk zu einem verzweigten Netz von Richtlinien, wurde es für die Nutzer:innen daher immer schwieriger, sich in dem Regelwerk zurechtzufinden und zu verstehen, wann es sich geändert hat.
Dies wird dadurch erschwert, dass auf der Hauptseite der Twitter Regeln – anders als in den Nutzungsbedingungen und in der Datenschutzrichtlinie von Twitter – kein Datum des Inkrafttretens oder der letzten Überarbeitung aufgeführt ist. Die meisten untergeordneten Seiten enthalten allerdings ein solches Datum. Außerdem bietet das Unternehmen kein Archiv früherer Versionen der Twitter-Regeln an, wie es bei den allgemeinen Geschäftsbedingungen und der Datenschutzerklärung der Fall ist.
Inhaltsrichtlinien bisher unverändert
Im Rahmen unserer Bestrebungen Änderungen in den Regelwerken von Plattformen im “Platform Governance Archive” zu erfassen und zu dokumentieren, haben wir jede Änderung an den Twitter Regeln, d. h. des gesamten beschriebenes Netzes von Richtlinien, seit ihrer Einführung im Jahr 2009 erfasst. Seit dem Abschluss der Twitter-Übernahme durch Musk am 27. Oktober, hat sich keine dieser Richtlinien geändert. Dies gilt auch für die Richtlinie zu Parodie-Accounts, die Musk in seinen Tweets in Frage gestellt hat.
Darüber hinaus konnten wir bisher auch keine Änderung der allgemeinen Geschäftsbedingungen oder der Datenschutzerklärung der Plattform im Zusammenhang mit der Übernahme durch Musk feststellen. Allerdings wurde am 9. November eine aktualisierte Fassung der “Allgemeinen Geschäftsbedingungen für Twitter Käufer” veröffentlicht, die unter anderem eine neue Klausel eingeführt enthält, die offenbar darauf abzielt, Identitätsbetrug im Rahmen des neue Abonnementmodells zu verhindern.
Auch wenn sich Twitters Inhaltsrichtlinien bisher noch nicht geändert haben, kann dies jederzeit passieren. Es wird daher wichtig sein, zu verfolgen, wie sich Twitters Regelwerk im Zusammenhang mit Musks Übernahme entwickelt. Die Untersuchung dieser Änderungen aus einer historischen Perspektive wird zeigen, ob und falls ja, wie sich Musks Vorstellungen von freier Meinungsäußerung und öffentlichem Austausch sich in dem Regelwerk der Plattform niederschlagen. Jede Änderung wird von uns daher genau überwacht und demnächst in einem aktualisierten Datensatz des Platform Governance Archive veröffentlicht.
Man kann ein soziales Netzwerk heute nicht wie im Jahr 2008 betreiben
Die Twitter-Übernahme durch Elon Musk markiert einen kritischen Moment in der Geschichte der sozialen Netzwerke, der Schlüsselfragen zu Plattformen, Macht und Governance aufwirft. Unter diesen Fragen haben wir hier den Aspekt der Richtlinien der Plattform besonders beleuchtet. Ein Blick in unser Archiv zeigt den langen Weg, den Twitters Regelwerk im Laufe des 16-jährigen Bestehens der Plattform genommen hat. Aufgrund massiven öffentlichen, wirtschaftlichen und politischen Drucks hat Twitter oft ausgefeilte Richtlinien für schwierige Themen wie Falschinformationen und Hassrede entwickelt und Expertenteams zur Durchsetzung der Richtlinien und zum Schutz der Nutzer:innen eingerichtet.
Auch wenn sich Twitters Richtlinien bisher noch nicht geändert haben, haben die letzten Wochen gezeigt, dass Elon Musk die Komplexität und die Bedeutsamkeit der Moderation von Inhalten weder anerkennt noch vollständig versteht. Tatsächlich wirken seine Äußerungen zum Thema Content-Moderation wie aus dem Jahr 2008. Wenn Musk darauf besteht, dass Twitter im Kern ein Technologieunternehmen sei, stimmt er in ein Lied ein, das Mark Zuckerberg und andere Plattform-Chefs längst aufgegeben haben – nachdem sie es im ersten Jahrzehnt der sozialen Netzwerke lautstark gesungen hatten. Damals hatten die Betreiber der sozialen Netzwerke eingesehen, dass sie Verantwortung für die Inhalte und Interaktionen auf ihren Seiten übernehmen mussten. Die Moderation von Inhalten “ist das Wesen der Plattformen, sie ist die Ware, die sie anbieten”, schreib Tarleton Gillespie 2018 (Gillespie 2018, S. 204). Social-Media-Plattformen haben seitdem zumindest teilweise gelernt, wie sie diese Rolle ausfüllen können.
Regeln ohne Durchsetzung?
Von all dem weicht Musk nun scheinbar drastisch und ungestüm ab. Zwar sind die grundlegenden Richtlinien noch in Kraft, doch die Teams, die bei Twitter für die Verwaltung der Regeln und ihre Durchsetzung zuständig sind, wurden drastisch reduziert, wenn sie überhaupt noch existieren. Denjenigen, die im Unternehmen verbleiben, fehlt der Rückhalt der Führung. Diese Entwicklungen schüren Zweifel an dem Fortbestehen von Twitters ausgefeilten System von Richtlinien und ihrer Durchsetzung und wirft die Frage auf: Was sind all die Regeln wert, wenn es niemanden mehr gibt, der sie durchsetzt?
Referenzen
Gillespie, T. (2018). Custodians of the Internet: Platforms, Content Moderation, and the Hidden Decisions That Shape Social Media. United Kingdom: Yale University Press.
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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